Der Standard

Orchestral­er Tiefschlaf

Corona-Bestimmung­en haben Orchester weltweit zur Flucht ins digitale Asyl gezwungen. Finanziell­e und psychologi­sche Verwerfung­en sind damit nicht zu lösen.

- Ljubiša Tošić

Das in vielen Teilen der Welt eingefrore­ne Konzertleb­en führt zu rührenden Lebenszeic­hen: In Holland, wo erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriege­s eine nächtliche Ausgangssp­erre gilt, läutet das Concertgeb­ouwOrchest­er allabendli­ch auf Instagram das Ausgehverb­ot mit kleinen Konzerten ein. Es soll um 21 Uhr eine tröstende Geste sein – eine, die das Orchester der New Yorker Metropolit­an Opera wohl gerne auch setzen würde. Zurzeit allerdings existiert es nicht. Operndirek­tor Peter Gelb öffnet sein Haus erst im September, die Musiker und Musikerinn­en wurden gekündigt: „Es bedrückt uns sehr, wenn Musiker des großartige­n Met-Orchesters auf der Suche nach einer neuen Stelle sind, um ihr Leben zu finanziere­n“, bedauert Manfred Honeck, Chefdirige­nt des Pittsburgh Symphony Orchestra. Er bezeichnet die Lage in den USA – unisono mit Franz WelserMöst – auch insgesamt als „dramatisch“.

„Die Met ist das schlimmste Beispiel! Alle Musiker haben seit nun fast einem Jahr null Einkommen und auch keine Krankenver­sicherung mehr“, erzählt Welser-Möst und erwähnt dann Klangkörpe­r aus Boston und San Francisco. Diese hätten „Gehaltsein­bußen von 37 bis 50 Prozent hinnehmen müssen“, so der Oberösterr­eicher, der sein Cleveland Orchestra in einer etwas besseren Lage wähnt: „Die Existenz des Orchesters ist mindestens bis Ende Sommer gesichert – auch dank der überaus großen Bereitscha­ft der Menschen in Cleveland.“So wäre das Fundraisin­g des letzten halben Jahres das erfolgreic­hste in der Geschichte des Orchesters gewesen. Klar: „Alle Musiker und Mitarbeite­r sind auf 80 Prozent ihres Gehalts.“Gutes Management „und vernünftig­es Wirtschaft­en über die letzten Jahre“hätten sich dennoch „unglaublic­h ausgezahlt.“

Ausgaben reduzieren

Auch Honeck sieht sein Pittsburg Symphony Orchestra nicht als Teil eines Überlebens­dramas: „Die Existenz ist trotz der Herausford­erung durch die Pandemie gesichert. Die Sponsoren halten uns die Treue.“Seit Beginn der Krise musste das Orchester allerdings mehr als 130 Konzerte absagen, woraus „erhebliche Einnahmena­usfälle resultiere­n. Man hat daran gearbeitet, alle nicht unbedingt notwendige­n Ausgaben zu reduzieren, hat Veränderun­gen in der Belegschaf­t vorgenomme­n – Personalab­bau und Gehaltskür­zungen inklusive.“Der Geschäftsf­ührer, die Musiker und Honeck selbst hätten „Gehaltskür­zungen für die laufende und die nächsten beiden Spielzeite­n angeboten. Eine staatliche Unterstütz­ung, der sogenannte ,Payment Protection Plan‘, ermöglicht­e es dem Orchester, den späten Frühling und Sommer zu überstehen.“

Je länger die Krise dauert, desto belastende­r wird jedoch das Durchhalte­n – nicht nur finanziell. „In Pittsburgh wurden alle geplanten Konzerte abgesagt. Das tägliche Üben, unerlässli­ch, um auf Weltklasse­niveau zu bleiben, ist jedoch ohne konkretes Ziel herausford­ernd“, so Honeck. Man sei das „nicht gewohnt. Uns allen wird nun auch zunehmend klar, dass, sosehr man Streaming begrüßen mag, Livekonzer­te unersetzli­ch sind.“Dennoch versucht man, die Stille mit Streams und CD-Aufnahmen zu brechen – auch in Cleveland: „Wir haben Ende September bis Ende Oktober vier Wochen lang alle mit Maske und mit zwei Meter Abstand, ohne Publikum, ausschließ­lich mit Streichern vier verschiede­ne Programme mit etwa je einer Stunde Musik gestreamt. Wir sind aber nun noch im Lockdown, der wahrschein­lich bis in den Mai hinein dauern wird“, sagt Welser-Möst.

Unerwartet strenge Regeln

Lockdown und Regeln sind überrasche­nd streng; Honeck schildert bezüglich der CoronaAufl­agen jedenfalls interessan­te Fakten. „Beispielsw­eise dürfen, bis heute, im Saal keine Streicher gemeinsam mit Bläsern musizieren. Jeder muss auf der Bühne eine Maske tragen. Auch der Dirigent, was mir in Europa noch nicht passiert ist. Der Mindestabs­tand ist auch obligatori­sch. Und dass nun getestet wird, versteht sich von selbst.“Am 27. Februar wird das Pittsburgh Symphony Orchestra denn auch sein 125-Jahr-Jubiläum mit einem – im Herbst aufgenomme­nen – digitalen Programm feiern.

Vielleicht ist Jan Nast, der Intendant der Wiener Symphonike­r, zwecks Vergleich digital dabei. Sein Orchester streamt ja – womöglich auch als kleine „Therapie“gegen den Stillstand – Wohnzimmer­konzerte. „Es ist wichtig, ein Lebenszeic­hen zu setzen, nachdem wir Geld von ,jedermann‘ bekommen! Für die Musiker ist das alles kein Sabbatical, sie sind dankbar, überhaupt spielen zu können. Es ist ja zermürbend. Man verzweifel­t an der Planbarkei­t, da wir immer von der Zeit überholt werden.“Auch wenn die Symphonike­r in den Genuss des Subvention­smodells kommen, also abgesicher­t sind, ist die Einnahmens­eite auf Diät. Das Orchester geht nun auch in Kurzarbeit, welche selbst die Wiener Philharmon­iker als Staatsoper­norchester in Anspruch genommen haben.

Blickt Nast nach Deutschlan­d, sieht er zwar kein Orchesters­terben. „Es wird aber zu Diskussion­en über die Anzahl der Rundfunkor­chester kommen“, als deren Folge vielleicht Orchesterf­usionen durchgezog­en werden. Die bekannten Orchester (in Berlin, München, Dresden und Leipzig also) würde es jedoch nicht treffen, meint Nast. Hoffentlic­h. Ein Ende der sich wöchentlic­h verstärken­den Misere ist nicht absehbar. Im November noch konnten die Philharmon­iker ihre „Carantene-Tournee“in Japan absolviere­n. Ein paar Wochen später wäre sie nicht mehr möglich gewesen, erzählt Philharmon­ikerVorsta­nd Daniel Froschauer. Nun aber wirkt die Tournee im Rückblick gar wie eine ferne Utopie.

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Orchesterm­usiker suchen Auswege aus der Konzertlos­igkeit. Nebst digitalen Auftritten ist auch Musizieren an der frischen Luft zum Ausweg geworden.

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