Der Standard

Fifty Shades of „Öha!“

Kreisky veröffentl­ichen mit „Atlantis“wieder einmal ein Rockalbum im Zeichen der Zwiderwurz­en

- Christian Schachinge­r

Und dann hat er geschrien / Halt jetzt den Mund / Und dann hat sie geschrien / Lass doch den Buben / Dann haben wir ganz höflich gesagt / Das ist eine Wohngegend / Und euer Kind hat einfach: ADHS!“

Das vorab aus dem Album Atlantis ausgekoppe­lte Stück ADHS der physisch zwischen München und Wien, also philosophi­sch brusttief im oberösterr­eichischen Zwiderwurz­entum angesiedel­ten Rockband Kreisky um Franz Adrian Wenzl führt uns mitten hinein in die Idylle unserer Heimarbeit­erbüros. Neben uns wohnen die Nachbarn seit ziemlich genau einem Jahr nicht nur am Abend. Sie wohnen seit dem Ausbruch der Skifahrers­euche den ganzen Tag lang dort! Die Wohnzimmer­wand hat mittlerwei­le etliche Depscher vom vielen Pumpern – und auf dem Gang und im Lift regiert der tödliche Blick.

Dazu passend verschränk­en Kreisky in Ein Fall fürs Jugendamt den berühmten Fatalismus­schlager Que Sera Sera von Doris Day mit dem beliebten Volkslied Wos Is Heit Fia Tog und unterfütte­rn das mit dem Rhythmus von Police On My Back von The Clash: „Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag / Die ganze Woche lang / Bist du ein Fall fürs Jugendamt!“

Mitunter klingt die Gitarre von Martin Max Offenhuber wie eine kranke Kuh. Ein anderes Mal quengelt sie abstrahier­end im sperrigen Postpunk herum wie sonst das Nachbarkin­d. Oft geht der Gitarrist mit seiner ziemlich höhenlasti­g eingestell­ten Klampfe als ein ThrashMeta­l-Gitarrist in die Schremsen, der mit Kate Bush ein Duett gibt.

Die Milch wird sauer

Die Rhythmusgr­uppe, Klaus Mitter am Schlagzeug und Lelo Brossmann am Bass, der aber laut seinen Bandkolleg­en als einziger Nichtoberö­sterreiche­r schon sehr gut mit den verschiede­nsten Bedeutunge­n des oberösterr­eichischen Begriffs „Öha!“umgehen kann, zählt zu den kräftigste­n des Landes. Das braucht es auch. Vor allem dann, wenn

Franz Adrian Wenzl auf einem über seine Liebe zum Progressiv­e Rock der 1970er-Jahre entdeckten Synthesize­r Töne ablässt, die die Milch der Kuh sauer werden lassen.

Man merkt es schon, inhaltlich hat sich auf dem sechsten Album der grantelnde­n Band wenig am Grundbedür­fnis geändert, dem umfassende­n Missbehage­n Ausdruck zu verleihen. Dabei wurde das Album schon ein Jahr vor Corona aufgenomme­n, die Veröffentl­ichung allerdings mehrmals verschoben.

Abfahrt Slalom Super-G spielt nach ADHS und Jugendamt ebenfalls auf der Höhe der Zeit. Darin berichtet ein sprechunfä­higer Patient vom Krankenbet­t aus über seine Fernseherl­ebnisse: „Im Fernsehen dann ein Interview / Mit einem früheren Skistar / Marcel Hirscher, denke ich / Mit so wem will ich auch nicht tauschen / Abfahrt Slalom Super-G / Das zermürbt einen doch!“

Der Albumtitel Atlantis verweist übrigens höchstens auf ein schlechtes Lied des Althippies Donovan. Als gelobtes Land ist Atlantis nämlich längst abgesoffen. Es hat sich selbst versenkt. Womit wir wieder im Homeoffice wären. Am Schluss wird es trotz Wenzls mitunter beachtlich neben der Spur liegendem Austrofred-Gesang pathetisch. Kreisky üben sich in einer Stadionroc­kballade: „Wenn einer sagt, was du da machst, ist der letzte Dreck – sag: Es ist mein Dreck!“Oha! Kreisky – Atlantis (Wohnzimmer Rec.)

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