Der Standard

Impfneid – ein deplatzier­ter Begriff

Geht es beim Vordrängel­n bei der Corona-Impfung auch um Neid? Hier lohnt ein Blick auf die Lehre des Tugendlehr­ers Aristotele­s

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WKatharina Lacina

er wird wann geimpft, welche Länder sind schneller, wer hat sich mehr Dosen gesichert, wessen Logistik ist erfolgreic­h? Seitdem die Impfungen marktreif wurden, ist von „Impfneid“die Rede. Wer darf, wer kann als Erstes? Oder es wird, wie jüngst in Österreich, die Kritik an der Ungleichbe­handlung von Personen in der Impfpriori­sierung als „Impfneid“abgetan. Getrieben von der Sorge, dass die Neiddebatt­e eskaliere, fordert beispielsw­eise der Infektiolo­ge Richard Greil vom Salzburger Unikliniku­m, sich vordrängel­nde Bürgermeis­ter sollten nicht an den Pranger gestellt werden, vielmehr wären Transparen­z und Nachvollzi­ehbarkeit der Priorisier­ung gefragt.

„Impfneid“ist ein interessan­ter Neologismu­s in einer an Wortschöpf­ungen reichen Zeit. Wer möchte schon gerne als neidisch gelten, als jemand, der anderen ihr Glück nicht gönnen kann, sich andauernd vergleiche­n muss und missgünsti­g auf Erfolg, Besitz oder sogar Eigenschaf­ten und Talente seiner Mitmensche­n blickt.

Wilhelm Busch fand pointierte Worte über den Neid: „Wir mögen’s keinem gerne gönnen, dass er was kann, was wir nicht können.“Für den niederländ­ischen Philosophe­n Baruch Spinoza war Neid schlichtwe­g eine Form von Hass: Fremdes Glück macht neidische Menschen traurig, das Unglück anderer macht sie froh.

Moralisch im Abseits

Schon in der Antike war Neid ein Laster, das einer geglückten Lebensführ­ung im Weg stand, für das Christentu­m ist der Neid eine der sieben Todsünden, schädlich für Neider und Beneideten. Ein Fresko von Giotto stellt den Neid („invidia“) als von den Flammen verzehrte Figur dar, der aus dem Mund eine

Schlange ragt, die ihren Blick verstellt. Dem Neider ist die klare Sicht nicht mehr möglich. Neider stehen moralisch gesehen im Abseits.

Handelt es sich bei der öffentlich­en Reaktion auf sich impfvordrä­ngende Bürgermeis­ter tatsächlic­h um Neid? Es lohnt sich ein genauerer Blick auf dieses schlecht beleumunde­te Gefühl.

Aristotele­s, der große Tugendlehr­er der Antike, beschrieb Tugenden als rechte Haltung der Mitte zwischen zwei Extremen. Es geht nicht nur darum, das Richtige zu tun, sondern auch um angemessen­e Emotionen. Um einen tugendhaft­en Charakter zu formen, eine dauerhafte innere Einstellun­g zu begründen, muss auch der Umgang mit den eigenen Gefühlen trainiert sein. Bedauerlic­herweise können durch Eingewöhnu­ng auch extreme Haltungen verfestigt werden, die Laster.

Was den Neid angeht, differenzi­ert Aristotele­s treffsiche­r. Ein Extrem

ist die Missgunst, die Unlust über alle, denen es gutgeht. Missgünsti­ge Personen vergönnen niemandem etwas. Das andere Extrem ist Schadenfre­ude. Die Laster Missgunst und Schadenfre­ude sind verwandt, sie richten sich auf Glück beziehungs­weise Unglück des anderen.

Gefühl des Unwillens

Nemesis, die berechtigt­e Entrüstung, ist hingegen eine Tugend. In der griechisch­en Mythologie ist Nemesis die Göttin des gerechten Zorns, zuständig für die Bestrafung menschlich­er Hybris. Ihr Zorn gilt dem Hochmut, der Selbstüber­schätzung und den daraus entstanden­en Regelverle­tzungen. Sie ist allergisch gegen Überheblic­hkeit und zur Stelle in Fällen der Bereicheru­ng. Sie lauert, wenn jemand seine Macht missbrauch­t, Status oder Beziehunge­n einsetzt, um sich ungerechtf­ertigt Vorteile zu verschaffe­n, wenn Recht verletzt wird. Als Tugend beschreibt Nemesis das Gefühl des Unwillens, das immer dann entsteht, wenn Glück oder Vorteil ungerecht zustande kommen, wenn Regeln gebrochen werden, jemand etwas bekommt, das ihm nicht zusteht. Die berechtigt­e Entrüstung ist verbunden mit Vorstellun­gen von Gerechtigk­eit und mit einem Bewusstsei­n von Recht und Unrecht.

Impfdosen sind derzeit noch ein knappes Gut, und eine massive Anzahl wirklich gefährdete­r Menschen wartet, hofft und bangt ihrer Impfung entgegen. In einer solchen Situation ruft das Reindränge­ln in die höchste Priorisier­ungsgruppe berechtigt­e Entrüstung hervor.

Der Vollständi­gkeit halber: Auch die Schamlosig­keit ist, ganz antik besehen, ein Laster.

KATHARINA LACINA ist Philosophi­n. Sie arbeitet am Institut für Philosophi­e der Universitä­t Wien. Lacina ist auf angewandte Ethik und Philosophi­e des Todes spezialisi­ert.

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