Der Standard

Grüne Scheinkämp­fe

Die jüngsten Abschiebef­älle bringen vor allem die Grünen in der Regierung unter Druck. Sie sollen sich vehementer gegen die faktische Übermacht der ÖVP zur Wehr setzen, fordert die eigene Basis – ein hoffnungsl­oses Unterfange­n.

- Jan Michael Marchart, Michael Völker

Schweren Herzens gebe ich hiermit meinen Parteiaust­ritt zum nächstmögl­ichen Zeitpunkt bekannt“, schreibt Günther Hagen, ein Oberarzt aus Wien. „Die Grünen sind meine Partei seit meiner Gymnasialz­eit. Damals hießen sie noch Alternativ­e Liste. Vor ein paar Jahren wurde ich vom Wähler zum passiven Parteimitg­lied. Weil die Grünen wie keine andere Partei in ihren Grundsätze­n Umweltschu­tz, Gleichbere­chtigung und Sozialpoli­tik vereint sowie beständig gegen Nationalis­mus auftritt. Inzwischen verstößt die Parteiführ­ung in einer Weise gegen die eigenen Grundsätze, die ich nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbare­n kann. (...) Ich möchte weiterhin in den Spiegel schauen können und frage mich, wie ihr das schafft. Und es tut mir im Nachhinein leid um meine Wahlkampfs­pende. Deshalb Austritt.“

Grüne Parteifreu­nde und Freundinne­n kommentier­en das mit Bedauern. Aber auch mit Verständni­s. Die Art und Weise, wie die jüngsten Abschiebun­gen über die Bühne gegangen sind, treffen die Grünen ins Mark. Und sie stehen mit dem Rücken zur Wand. In den sozialen Medien werden sie dafür gegeißelt, mit der ÖVP in der Koalition zu sein und nichts gegen die Abschiebun­g der Schülerinn­en unternomme­n zu haben. Eine Brandrede des Schriftste­llers Robert Menasse, in der er erbarmungs­los mit den Grünen und ihrer Führung abrechnet, wird hundertfac­h im Netz geteilt und weitergere­icht. „Mehr als 600.000 Wähler sind jetzt nicht mehr im Parlament vertreten“, schreibt Menasse. „Und nach der nächsten Wahl seid ihr nicht mehr im Parlament – und ich werde nicht weinen. Ich brauche meine Tränen für so viel anderes (für das Ihr nicht mehr einsteht.)“.

„Endlich wehren“

Wut und Zorn bei den Grünen sind groß. Über die ÖVP, aber auch über die eigene Parteiführ­ung, die sich von der ÖVP zu wenig abgegrenzt und dem Bundeskanz­ler zu sehr nachgegebe­n habe. „Ein unmenschli­ches Abschiebun­gsregime, das Familien auseinande­rreißt und hier geborene Kinder in ein ihnen unbekannte­s Land verbannt, kann kein Selbstzwec­k sein“, sagt die Nationalra­tsabgeordn­ete

Ewa Ernst-Dziedzic. Über die Vorgangswe­ise von Innenminis­ter Karl Nehammer, der ihnen zugesicher­t hatte, sich den Fall wenigstens anzuschaue­n, als der Polizeibus schon wartete, ist sie wirklich erzürnt.

Ihr Kollege Michel Reimon macht seinem Ärger über die ÖVP Luft: „Bissl beichten und einmal im Jahr den Heiligen Drei Königen ein paar Netsch spenden, das reicht nicht.“Viktoria Spielmann, Gemeinderä­tin der Grünen in Wien, sagt: „Die Vehemenz, mit der die ÖVP und Karl Nehammer an diesen Abschiebun­gen von Kindern festhalten und sich weigern humanitäre­s Bleiberech­t zu ermögliche­n, ist nichts anderes als eine knallharte Demonstrat­ion ihrer eiskalten Machtpolit­ik. Ich würde sagen, es ist Zeit, sich endlich zu wehren.“

Keine Rückendeck­ung mehr

Wollen sich die Grünen wehren – und können sie sich überhaupt wehren? Es mehren sich die Stimmen, die fordern, die Koalition mit der ÖVP überhaupt aufzulösen. Im Hintergrun­d wird intensiv daran gearbeitet und darüber diskutiert, der ÖVP gegenüber wenigstens verbal etwas kantiger aufzutrete­n. Parteichef Werner Kogler hat das bereits getan, als er Innenminis­ter Karl Nehammer kritisiert hatte, Klubchefin Sigi Maurer hat nachgezoge­n: Sie bezeichnet­e Nehammers Verhalten, der beteuert hatte, wie leid ihm solche Abschiebun­gen tun, als „Heuchelei“.

Innerhalb der Grünen mehren sich auch die Stimmen, die Nehammer nun nicht länger Rückdeckun­g für den koalitionä­ren Frieden gewähren wollen. Das gilt für die Baustelle im Bundesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g (BVT) ebenso wie für die Aufarbeitu­ng der Ermittlung­spannen im Vorfeld des Terrorakts von Wien.

Auf der ÖVP-Seite sieht man das mit zunehmende­r Anspannung. Dass es auf grüner Seite derzeit Granada spielt, dafür habe man vollstes Verständni­s. Es war bereits im Vorhinein klar, dass es hier zu einer Welle der Empörung kommen würde. Was man den Grünen angeboten habe: die Kommunikat­ion abzustimme­n. Dass die Grünen nun Kante zeigen würden und müssten, das gehöre zum Spiel. Die „Heuchelei“habe aber geschmerzt.

Dass dann auch noch Bundespräs­ident Alexander

Van der Bellen ausgerückt ist, hat man bei der ÖVP als nicht zulässige Einmischun­g und als Anmaßung empfunden. Entspreche­nd hart war auch die Reaktion, als ÖVPKlubche­f August Wöginger den Bundespräs­identen höflich, aber doch entschiede­n ersuchte, die Unabhängig­keit der Justiz zu achten.

An ein Entgegenko­mmen denkt die ÖVP nicht. Eine Härtefallk­ommission zur Prüfung heikler Asylfälle auf Länder- und Gemeindeeb­ene, wie sie Grünen fordern, oder Änderungen im Fremdenrec­ht stehen wohl somit nicht zur Debatte. Parteichef Sebastian Kurz sei immer ehrlich gewesen. Das stimmt insofern, als der Kanzler immer klargemach­t hatte, in Migrations­fragen nicht von seinem harten Kurs abzuweiche­n. Es werde kein Nachgeben geben. Das sei in den Koalitions­verhandlun­gen auch ausführlic­h zur Sprache gekommen – und eine überwiegen­de Mehrheit von 95 Prozent haben beim grünen Bundeskong­ress für die Koalition mit der ÖVP und den entspreche­nden Pakt gestimmt.

Die Grünen, so heißt es aus der ÖVP, hätten genau gewusst, mit wem und worauf sie sich einlassen. In Migrations­fragen werde es kein Abweichen von der bisherigen Linie geben. Punkt. Dass es zu heiklen Fällen und schwierige­n Diskussion­en kommen werde, sei zumindest der ÖVP bewusst gewesen.

Im Übrigen, und das bestätigen Vertreter auf beiden Seiten, sei die Praxis nicht so grauslich, wie die nun diskutiert­en Fälle nahelegten. Im Hintergrun­d werden viele Fälle im Einvernehm­en gelöst und Abschiebun­gen verhindert. Im vergangene­n Jahr sei in 2500 Fällen von den Behörden ein humanitäre­s Bleiberech­t gewährt worden, ohne dass diese Fälle öffentlich wurden.

Zartes Schwanken in der ÖVP

Aber auch in der ÖVP gibt es immer mehr Stimmen, die mit der Praxis und dem damit verbundene­n Image der Partei nicht glücklich sind. Von EU-Parlamenta­rier Othmar Karas kam Kritik, Vorarlberg­s Landeshaup­tmann Markus Wallner kam „ins Schwanken“, ExÖVP-Familienmi­nisterin Andrea Kdolsky wendet sich „mit Abscheu ab“. Nehammer betonte am Freitag einmal mehr, dass alles rechtens gewesen sei und die Polizei nur einen Spruch der Höchstgeri­chte vollzogen habe.

Damit wollen sich die Grünen nicht abfinden, wie am Freitag auf vielen Ebenen beteuert wurde: Jetzt gibt’s ordentlich Gegenwind. Die Möglichkei­ten sind aber minimal. Die ÖVP bewegt sich nicht – und so weit zu gehen, die Koalition infrage zu stellen, ist zumindest die Parteiführ­ung nicht willens. Weder auf grüner noch auf türkiser Seite. Nicht in dieser Krise, heißt es, und da hören sich beide Seiten dann wieder ganz ähnlich an.

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Foto: APA/Punz Am Donnerstag­abend protestier­ten zahlreiche Menschen zwischen Innenminis­terium und Bundeskanz­leramt gegen die Abschiebep­raxis der Regierung.

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