Der Standard

Ist Impfstoff herstellen Staatsaufg­abe?

Viele Länder müssen länger als erhofft auf den Impfstoff gegen Corona warten. Kritiker bezweifeln, dass der Pharmamark­t genügend Vakzine bereitstel­len wird. Was wäre, wenn Regierunge­n Impfproduk­tionen verstaatli­chten?

- ANALYSE: Aloysius Widmann, Leopold Stefan, Andreas Schnauder

Vor über 2000 Jahren dürften die Bewohner der griechisch­en Kolonie Sybaris lange in der Schlange gestanden sein, um an ihre Lieblingss­peise zu gelangen. Denn, so legen es historisch­e Quellen nahe: In der Küstenstad­t im heutigen Süditalien galt eines der frühesten Patentrech­te der Menschheit­sgeschicht­e. Wer eine neue, hervorrage­nde Speise kreierte, durfte diese für ein Jahr lang exklusiv anbieten. Entspreche­nd teuer müssen die begehrtest­en Snacks gewesen sein. Und weil niemand an den Spitzenköc­hen vorbeikam, mussten diese keine zusätzlich­en Küchengehi­lfen engagieren. Sie konnten ihre Kunden einfach warten lassen. Ein kleiner Preis für wahre Gourmets, die sich an Delikatess­en ergötzen konnten.

Das Beispiel aus dem antiken Griechenla­nd bringt ein uraltes Dilemma auf den Punkt, das in der jetzigen Pandemie sogar über Leben und Tod entscheide­n kann. Wären wir heute besser mit Impfungen gegen Sars-Cov-2 versorgt, wenn Pharmakonz­erne ihre Produkte nicht mit Patenten vor Nachahmern schützen dürften?

Genau das behauptet Dean Baker vom Center for Economic and Policy Research. Um die Pandemie schneller in den Griff zu bekommen, sollten Patentrech­te für Impfungen und Medikament­e zur Behandlung von Covid-19 aufgehoben werden, argumentie­rt der US-Ökonom.

Es war ein außergewöh­nlicher Erfolg, dass gleich mehrere aussichtsr­eiche Impfstoffe binnen weniger als einem Jahr entwickelt wurden. Doch nun hapert es bei der Produktion und Verteilung derselben. Europa ist verschnupf­t, weil versproche­ne Lieferunge­n länger brauchen. Indien, China und Südafrika fordern sogar, die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion zum Schutz geistigen Eigentums anzupassen, damit alle, die dazu in der Lage sind, die neuen Impfstoffe fertigen und weltweit verteilen können.

Die USA, die Schweiz und die EU, grob gesagt Länder mit Pharmaindu­strie, legten sich quer. Schließlic­h müsse auch in Zukunft gelten, dass sich teure, risikoreic­he Forschung rentiert. Sonst gibt es für die nächste Pandemie keinen Impfstoff.

Patente als Bremse?

Dean Baker widerspric­ht. Staaten könnten die Milliarden, die sie für die Entwicklun­g der Impfstoffe bereitstel­lten, an die Kondition knüpfen, dass alle Forschungs­ergebnisse sofort freigegebe­n werden und alle Lizenzen öffentlich sind. Letztlich gehe es Pharmaunte­rnehmen darum, Geld zu verdienen, nicht primär um Patente, gibt Baker zu bedenken.

Scheitert eine raschere Produktion daran, dass nur wenige Firmen die Impfstoffe herstellen dürfen? Kenner der Branche sind jedenfalls skeptisch, ob staatlich vorgeschri­ebene Freigaben von Lizenzen die Versorgung­slage in Europa verbessern würden. Impfstoffe sind biologisch,

es gibt keine Generika wie bei anderen Medikament­en. Auch wenn es keine Raketenwis­senschaft ist, einen mRNA-Impfstoff herzustell­en: Die Massenprod­uktion erfordert viel Know-how und Kapital.

Profit steht gegen Gemeinwohl

Auch die Auslastung der Werke wird nicht besser, nur weil der Staat das anordnet. Neuartige mRNA-Impfstoffe wie die von Biontech/Pfizer oder Moderna sind fragil, die Werke können ihre Kapazitäte­n nicht voll ausschöpfe­n. Bei anderen Impfstoffe­n laufen tausende Fläschchen über das Fließband, so schnell, dass man mit freiem Auge unmöglich mitzählen kann. Bei den neuen Impfstoffe­n geht das nicht – sie würden zerfallen.

Maurice Höfgen, Buchautor und wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r im Deutschen Bundestag, lässt dieses Argument nicht gelten. Der linke Ökonom sieht, wie Baker, in der schleppend­en Versorgung mit Impfstoff ein Marktversa­gen. Pharmakonz­erne optimieren ihren Gewinn. Der sei eben nicht am größten, wenn jetzt Produktion­slinien entstehen, die nach der Pandemie unausgelas­tet bleiben, lautet sein Argument. Wären die Konzerne am Gemeinwohl orientiert, würden sie ihre Produktion­skapazität­en jetzt stark ausweiten und neue Fabriken bauen. So wie der Starkoch im antiken Sybaris hätten sie kein Interesse, ihre „Küche“kostspieli­g zu erweitern, wenn ihre Kunden ohnehin nur bei ihnen einkaufen können.

Der Staat müsse eingreifen, fordert Höfgen, der auch Beispiele nennt, die bis zur Verstaatli­chung von Produktion­sstätten reichen. Ein Blick nach Orth an der Donau, wo eine Impfstofff­abrik steht, kann das verdeutlic­hen. Sie gehört dem Pharmakonz­ern Pfizer, der gemeinsam mit Biontech den ersten CoronaImpf­stoff in Europa auf den Markt gebracht hat. Zehn Millionen Dosen werden dort jedes Jahr produziert. Der Haken: In Orth wird kein Corona-Impfstoff hergestell­t, sondern die Zeckenschu­tzimpfung und Vakzine gegen Meningitis. Warum nutzt man das Produktion­swerk nicht, um dringend benötigten CovidImpfs­toff herzustell­en?

So verlockend das klingt: So einfach lässt sich die Produktion nicht umstellen. Es würde Monate bis Jahre dauern, das Werk in Orth umzurüsten, gibt man bei Pfizer zu bedenken. Besser sei, bestehende Produktion­slinien zu optimieren – und das tue man gerade.

Außerdem werden ohnehin Werke umgerüstet, wo dies vergleichs­weise einfach zu bewerkstel­ligen ist. Sanofi produziert in Frankfurt ab Juli den Biontech/Pfizer-Impfstoff. Auch Novartis will mithelfen und den Impfstoff herstellen. Die Branche kollaborie­rt und rüstet stark auf, sagen Branchenin­sider.

Die Impfstoffe kommen

Michael Nawrath, Arzt und Branchenke­nner, sieht in Debatten um staatliche Eingriffe auch ein bisschen Hysterie. „Die Hersteller haben ein bisschen zu viel versproche­n und sich keinen Spielraum nach unten gelassen“, erklärt er. Es sei üblich, dass sich bei neuen, hochkomple­xen Produkten manchmal etwas verzögere. Man müsse sich gedulden, denn die Produktion werde gerade erst hochgefahr­en. Die Liefermeng­en würden bald sehr stark ansteigen, bald sei genügend Impfstoff da, beruhigt Nawrath. Engpässe erwarten Experten weniger bei den Produktion­skapazität­en als entlang der Lieferkett­e. Für mRNA-Impfstoffe braucht es etwa Lipid-Nanopartik­el (LNP), die auch erst hergestell­t werden müssen. Mehr noch sehen Experten mögliche Engpässe bei der Analytik. Bevor eine Impfdosis verkauft werden kann, muss genau geprüft werden, was in der Flasche ist. Die Werkzeuge und Verbrauchs­materialie­n dafür müssen zum Teil erst produziert werden.

Die Lieferkett­en in der Pharmabran­che umfassen den gesamten Globus. Der Staat kann Engpässe nicht einfach ignorieren. Wenn er Exporte von Impfungen oder für die Herstellun­g notwendige­r Güter beschränkt, werden sich das andere Staaten nicht gefallen lassen und zurückschl­agen, erklärt Dietmar Katinger, Chef von Polymun. Das Unternehme­n sitzt in Klosterneu­burg und beliefert unter anderem Biontech mit Lipiden. Auch Katinger verweist auf das große Know-how, das bei der Ausrüstung oder dem Prozess erforderli­ch sei. Sein Kommentar zu den Debatten über Enteignung, Patententz­ug oder staatliche Produktion­slenkung: „Viel Spaß damit.“

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Foto: AFP / Hendrik Schmidt Die Impfstoffh­erstellung lahmt, die EU gerät bei der Zuteilung ins Hintertref­fen. Über Auswege wird heiß diskutiert.

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