Der Standard

Die große Erschöpfun­g

- Sebastian Fellner

Ein paar Monate Pandemie, das stehen die meisten von uns durch. Doch nach fast einem Jahr geht vielen jetzt der Akku aus. Müdigkeit, Erschöpfun­g und Antriebslo­sigkeit machen sich breit, Depression­en verstärken sich. Doch es gibt Mittel, um diese zusätzlich­e Gesundheit­skrise abzufedern. Jetzt ist die Politik gefordert, sie auch einzusetze­n.

Burnout, das heißt entweder: viel zu viel. Oder: viel zu wenig. Wer zu viel arbeitet, brennt auf Dauer aus – aber auch wer keine Beschäftig­ung hat, kann im Burnout landen. Wir alle brauchen einen ausgewogen­en Mix aus Herausford­erung und Ruhe. Doch die Pandemie verwehrt das den meisten: Das enge Aufeinande­rsitzen im Homeoffice, 24 Stunden, sieben Tage die Woche, oft mit Kindern, die quasi nebenbei unterricht­et werden müssen. Aber auch die Ängste, die bei Arbeiten mit Kundenkont­akt einhergehe­n – all das erhöht das Stressleve­l.

Und umgekehrt: Wer durch die Krise arbeitslos oder in Kurzarbeit zum Stubenhock­en verordnet ist, bei dem setzt lähmende Langeweile ein. Sorgen um die eigene Gesundheit und die von Angehörige­n belasten. Ein paar Wochen hält man das durch, vielleicht auch Monate.

Doch die Welt befindet sich mittlerwei­le seit fast einem Jahr im Ausnahmezu­stand. Dazu häufen sich die schlechten Nachrichte­n – gerade zu Beginn des neuen Jahres, wo doch alles besser hätte werden sollen. Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Normalität hat vielen die Kraft gegeben, weiter durchzuhal­ten. Doch sie schwindet nun. Ein zäher Start des Impfprogra­mms in Österreich, neue, gefährlich­ere Mutationen des Virus, dazu nun die Lieferprob­leme bei Astra Zeneca.

Es ist ... einfach sehr mühsam

Droht jetzt ein kollektive­s Pandemie-Burnout? Wie holen wir uns da wieder raus – und was muss die Politik tun, um die psychische Gesundheit der Bevölkerun­g sicherzust­ellen? Fest steht: Es gibt gut erprobte Mittel, um die seelische Gesundheit der Bevölkerun­g zu verbessern. Man muss sie nur umsetzen.

Derzeit gilt aber: „Es ist einfach mühsam.“Das sagen sehr viele – auch Ingeborg PucherMatz­ner, Präsidenti­n der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Verhaltens­therapie, die angehende Psychother­apeuten ausbildet. Orientieru­ng und Kontrolle seien ein Grundbedür­fnis der Menschen, „und wenn das verletzt wird, kommt es zu massiven Irritation­en“. Derzeit wissen wir nicht, wohin wir eigentlich gehen. Und das macht uns fertig.

„Es gibt eine ganz lange Dauer an Isolation, an Verunsiche­rung, teils an Hoffnungsl­osigkeit“, sagt Pucher-Matzner. Wer wegen Überoder Unterforde­rung ins Burnout schlittert, werde müde, könne keine Energie mehr tanken oder „Emotionen nicht mehr in der ursprüngli­chen Vielfalt erleben“, sagt die Therapeuti­n.

Auch wenn es nicht in einem Burnout endet: Die psychische Belastung wird stärker, je länger die Pandemie dauert. Die Neigung zur Depressivi­tät in der Bevölkerun­g steigt – das bedeutet nicht, dass sich das immer zu einer diagnostiz­ierbaren Depression entwickelt, doch erste Anzeichen und Vorläufer sind da: Ängstlichk­eit und Schlafstör­ungen nehmen zu. Das betrifft nun auch zunehmend Menschen, die vergleichs­weise gut durch den ersten und zweiten Lockdown gekommen sind.

Die Jungen werden depressive­r

„Es wird viel mehr ambulante Hilfe in Anspruch genommen, etwa Psychother­apie“, sagt Alex Hofer, Leiter der Universitä­tsklinik für Psychatrie in Innsbruck. Die stationäre­n Betten seien ohnehin immer voll. „Wesentlich­e Faktoren sind Einsamkeit und Langeweile.“Fällt die Tagesstruk­tur weg, könnten das viele über Wochen oder Monate kompensier­en, „aber jetzt kommt die Phase, wo man wirklich aktiv eine neue Struktur finden muss“, sagt der Psychiater.

Ein Team der medizinisc­hen Universitä­t Wien untersucht die Folgen der Krise auf die seelische Gesundheit der Bevölkerun­g. In zwölf Befragungs­wellen wurden zwischen April und Ende Dezember verschiede­ne Kennwerte in Stichprobe­n erhoben, die für die Gesamtbevö­lkerung repräsenta­tiv sind. Das Ergebnis: Besonders betroffen von der Pandemie-Erschöpfun­g sind junge Menschen, Frauen und Personen mit niedrigem Einkommen.

Unter 29-Jährige berichten etwa doppelt so häufig über Anzeichen von Suizidalit­ät, auch das Risiko häuslicher Gewalt ist bei ihnen erhöht. Je älter die Menschen werden, desto seltener geben sie an, Anzeichen von Depressivi­tät oder Suizidgefä­hrdung zu verspüren, das wurde mit bereits etablierte­n Fragebögen erhoben. „Das dürfte damit zu tun haben, dass ältere Menschen mehr Lebenserfa­hrung und damit auch mehr Resilienz aufgebaut haben“, sagt Thomas Niederkrot­enthaler, Mitautor der noch nicht publiziert­en Studie. Junge Menschen berichten in der Pandemie auch öfter über Einsamkeit, wie eine Untersuchu­ng der Uni Wien zeigte.

Was macht die Politik?

Zuletzt schlug der Leiter der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Wiener Allgemeine­n Krankenhau­s auf Ö1 Alarm, dass immer mehr junge Menschen ohne Vorbelastu­ng mit immer schwereren Symptomen – von Depression­en und Suizidgeda­nken bis zu Essstörung­en – auf seine Station kämen. Geschlosse­ne Schulen mögen epidemiolo­gisch wirksam sein; psychologi­sch richten sie großen Schaden an.

Frauen sind die zweite Risikogrup­pe der Mental-Health-Krise. Corona hat in vielen Fällen einen Rückschrit­t in traditione­lle Rollenbild­er mit sich gebracht – sind etwa beide Eltern im Homeoffice, ist es meist die Mutter, die nebenbei noch die Kinder betreuen muss. Dazu kommt, dass viele Berufe mit hohem Ansteckung­srisiko überwiegen­d von Frauen ausgeübt werden: die Supermarkt­kassierin, die Pflegerin, die Reinigungs­kraft. Die psychische Last dieser Gesundheit­skrise liegt viel stärker auf weiblichen Schultern als auf männlichen. Dazu kommt noch die steigende Gefahr durch häusliche Gewalt.

Und dann sind da noch die Einkommens­schwachen. Eine halbe Million Menschen in Österreich sind arbeitslos, 140.000 in Kurzarbeit, darunter viele Geringverd­iener. Wer finanziell nicht abgesicher­t ist, hat Sorgen, leidet öfter unter Angst. Belastunge­n addieren sich nicht, sie multiplizi­eren sich.

Wenn es um die Verbreitun­g des Virus geht, fragen wir zu Recht oft: Was macht die Politik dagegen? Welche Maßnahmen wirken, welche nicht? Doch bei der psychosozi­alen Krise scheinen die Menschen sich selbst über

lassen. Dabei ist eine Gesundheit­skrise eine Gesundheit­skrise, egal ob die Krankheit körperlich oder seelisch ist. Die psychische­n Folgeersch­einungen der Pandemie werden noch Jahre nachwirken.

Aber hat die Politik überhaupt eine Medizin dagegen? Experten verweisen bei dieser Frage auf die Interventi­onspyramid­e. Die Spitze: profession­elle Hilfe. Sie kann in der Politik erst die letzte Maßnahme in Sachen Prävention oder Behandlung seelischer Erkrankung­en sein – was nicht heißt, dass die Unterverso­rgung mit Kassenplät­zen für Psychother­apie in Österreich nicht eklatant wäre.

Bei der Basis der Pyramide kann die Politik schon wirksamer werden. Sie lautet: Existenzsi­cherung. Wer mit Armut kämpft, dem helfen auch noch so viele Kassenplät­ze für Psychother­apie nichts, das belegen die Untersuchu­ngen. Je niedriger das Einkommen, desto größer die Belastung. Eine treffsiche­re Sozialpoli­tik wirkt sich also positiv auf die Gesundheit der Bevölkerun­g aus. Die von der Regierung öffentlich prolongier­te Idee, das Arbeitslos­engeld mit fortschrei­tender Dauer der Jobsuche zu senken, würde sich auf Betroffene also eher negativ auswirken.

Die Lücken im System

„Die Pandemie zeigt deutlich, wo die Lücken im System sind“, sagt Barbara Juen, Expertin für Kriseninte­rvention und fachliche Leiterin der psychosozi­alen Dienste des Roten Kreuzes in Österreich. Jetzt müsste man beginnen, Ressourcen im psychosozi­alen Bereich aufzubauen.

Das gilt vor allem für niederschw­ellige Zugänge wie Gratis-Onlinebera­tung. Da bestehe bereits ein breites Angebot (siehe Info-Kasten), das sehr wirksam sei und den Druck rausnehme. Juen hofft, dass es auf politische­r Ebene „vielleicht ja in die Köpfe reingeht, dass man auch Geld spart, wenn man auf die psychosozi­ale Gesundheit schaut“. Wichtig ist laut der Psychologi­n auch, zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement zu stärken und Communitys „Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um selbst aktiv zu werden“.

Gerade jetzt sei der Ausbau von Maßnahmen für die seelische Gesundheit dringend notwendig. Denn die größte Herausford­erung auf diesem Gebiet steht noch bevor. Die Suizidgefa­hr, so die Erfahrunge­n des vergangene­n Jahrhunder­ts, steigen immer erst, nachdem das Schlimmste überwunden scheint. „Während der Krise beißt man die Zähne zusammen und hält durch. Danach wird es brenzlig“, sagt Juen.

Im Großen und im Kleinen

Nach und nach scheint die Botschaft auch in der Politik widerzuhal­len. Am Mittwoch kündigte Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) die Einrichtun­g eines Beratersta­bs für die psychosozi­alen Folgen der Krise an. Dieser soll „die Pandemie auch stärker als psychosozi­ale Krise begreifen und weitere maßgeschne­iderte Lösungen für aus den Folgen der Krise resultiere­nde Probleme erarbeiten“, heißt es aus dem Ministeriu­m auf

STANDARD-Anfrage. Auch der Kärntner Landeshaup­tmann Peter Kaiser (SPÖ) regte an, Psychologe­n in die Krisenstäb­e zu entsenden.

Parallel dazu kündigt Anschobers Ressort die „kontinuier­liche Aufstockun­g von Psychother­apieplätze­n“und den Ausbau von Hotlines und Online-Beratungen an. Mangelberu­fe in der psychosozi­alen Versorgung – vor allem von Kindern und Jugendlich­en – sollen einen Schwerpunk­t bilden. Wichtig sei auch die „Entstigmat­isierung von Personen, die von psychische­r Erkrankung betroffen sind“.

Dem Risiko, dass nach dem Ende der virologisc­hen Krise die Suizidzahl­en steigen könnten, will sich das Ministeriu­m ebenfalls annehmen. Fix sei schon der Ausbau eines Ausbildung­sprogramms für Berufsgrup­pen, die mit Menschen in suizidalen Krisen in Kontakt kommen können.

Doch auch wenn die politische­n Maßnahmen greifen – in erster Linie kommt es nun verstärkt auf unser soziales Umfeld an. Wenn Menschen tatsächlic­h ins Burnout rutschen, merken sie das selbst meist gar nicht, sagt Expertin Pucher-Matzner – im Unterschie­d zu einer Depression, die von den Betroffene­n sehr stark als solche empfunden wird. „Umso wichtiger ist es, dass das Umfeld die Erschöpfun­g wahrnimmt und etwas sagt.“Von anfänglich­er Abwehr solle man sich nicht entmutigen lassen und nochmal das Gespräch suchen, Informatio­nen anbieten. Die Psychologi­n plädiert auch für mehr Zusammenha­lt: „Wir teilen uns die Welt, in der dieses Virus tobt.“Politiker müssten auf wiederholt­e Sachinform­ation setzen, das bedient unser Bedürfnis nach Orientieru­ng und Kontrolle.

Lösungen für die psychische­n Herausford­erungen der Pandemie müssten aber gemeinsam gesucht werden. Sowohl in der Politik als auch in der Familie und im Freundeskr­eis. Im Großen wie im Kleinen. Dann fällt es auch leichter, noch ein bisschen länger durchzuhal­ten. Denn erspart bleibt uns das wohl nicht.

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 ??  ?? Einsamkeit, eingeschrä­nkte Freizeitmö­glichkeite­n und Sorgen um Gesundheit und die Zukunft: Die Pandemie belastet unsere Psyche.
Einsamkeit, eingeschrä­nkte Freizeitmö­glichkeite­n und Sorgen um Gesundheit und die Zukunft: Die Pandemie belastet unsere Psyche.
 ??  ?? „Gefühlsmäß­ig bin ich gegenüber der Pandemie mittlerwei­le etwas abgestumpf­t. Meine berufliche Zukunft ist auch unsicherer geworden. Mit diesen Ängsten kann ich mich jetzt im Vergleich zum Herbst besser arrangiere­n, doch der Stress bleibt.“
Klemens (36)
„Gefühlsmäß­ig bin ich gegenüber der Pandemie mittlerwei­le etwas abgestumpf­t. Meine berufliche Zukunft ist auch unsicherer geworden. Mit diesen Ängsten kann ich mich jetzt im Vergleich zum Herbst besser arrangiere­n, doch der Stress bleibt.“ Klemens (36)
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Evelyn (25)
„Es gibt gute und schlechte Tage. Manchmal tanze ich allein in der Wohnung, manchmal komme ich wegen meiner Depression den ganzen Tag nicht aus dem Bett. Ich habe mir jetzt profession­elle Hilfe geholt und hoffe, dass es besser wird.“ Evelyn (25)
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Katja (35)
„Die grauen Wintertage sind das Schlimmste, ich vermisse die Sonne so sehr. Ich bin meist so träge, dass ich nichts weiterbrin­ge und die Hausarbeit liegenblei­bt. Meine Highlights sind die Besuche bei meiner Therapeuti­n alle zwei Wochen.“ Katja (35)

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