Der Standard

„Ganz, ganz riesige Kapazitäte­n liegen brach“

Mit den Engpässen bei den Covid-19-Impfstoffe­n erreichen systematis­che Probleme der Pharmaindu­strie Europa, sagt Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen. Vor allem Patentrech­te blockieren eine gerechtere globale Verteilung.

- INTERVIEW: Anna Sawerthal

Marcus Bachmann war schon bei vielen Impfkampag­nen in Ländern in Afrika dabei. Die sind sehr herausford­ernd, aber man hat es immer noch geschafft, erzählt er dem STANDARD. Er erklärt, wie Patentrech­te im Weg stehen, um weltweite Produktion­skapazität­en auszuschöp­fen.

STANDARD: Wenn schon die EU in Konflikt mit Pharmafirm­en gerät, wie schaut das erst für wirtschaft­sschwache Länder aus? Bachmann: Was man nun klar sehen kann, ist, dass das Problem nicht bloß eines der Menschen des globalen Südens ist. Die Ungerechti­gkeit betrifft sie vielleicht stärker. Aber wir erleben gerade selbst, dass wir in einer sehr schwachen Verhandlun­gsposition sind. Insgesamt ist das „Ökosystem“der pharmazeut­ischen Forschung und Entwicklun­g, der Produktion und Vermarktun­g, aus den Fugen geraten. Patientinn­en bekommen nicht mehr die Arzneistof­fe, die Diagnostik, die Impfstoffe, die sie benötigen. Sie und Interessen­sparteien wie etwa die EU sitzen am unteren Ende einer schiefen Ebene. Am oberen sitzen sehr mächtige pharmazeut­ische Konzerne.

STANDARD: Gibt es Gegenmitte­l? Bachmann: Die Pharmaindu­strie war sehr erfolgreic­h darin, den Regierunge­n viele geistige Schutzrech­te abzuverhan­deln. Ohne diese Anreize fiele die Bereitscha­ft der Industrie, in Forschung und Entwicklun­g zu investiere­n, weg, so die Begründung. Das hat sich längst ins Gegenteil gekehrt. Wir erleben jetzt bei den Covid-19-Impfstoffe­n, dass die Patente dazu beitragen, dass Produktion­skapazität­en nicht ausgeschöp­ft werden. Die pharmazeut­ische Industrie sagt, es kann nicht mehr produziert werden. Doch das stimmt nicht. Ganz, ganz riesige Kapazitäte­n liegen brach, weil die Patente dazwischen liegen.

STANDARD: Wo gibt’s die Kapazitäte­n? Bachmann: Es gibt viele Werke in Indien, China, Südafrika oder Brasilien zum Beispiel. Technologi­sch sind die bestens gerüstet.

Auch in Europa haben Werke Kapazitäte­n frei. Baxter hat zum Beispiel eine Produktion­slinie für Novavax reserviert, die jetzt aber später drankommt, die Linien liegen nun frei. Bayer, die ja selbst keinen Covid-19-Impfstoff haben, könnten 100 Millionen Dosen produziere­n.

STANDARD: Wie realistisc­h ist es, dass Patentrech­te ausgesetzt werden?

Bachmann: Ein Antrag liegt bei der Welthandel­sorganisat­ion in Genf. Es geht dabei um eine Klausel des TRIPS-Abkommens (Anm.: Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectu­al Property Rights), die Patente für Covid-19Werkzeug­e auszusetze­n, bis die Pandemie vorbei ist. Dieses Verfahren muss nicht erfunden werden, es wurde genau dafür geschaffen. Bisher unterstütz­en das mehr als 100 Länder; aber die USA, Deutschlan­d, Großbritan­nien, Frankreich und auch Österreich nicht.

STANDARD: Warum nicht?

Bachmann: Die Rhetorik ist mannigfalt­ig. Es geht dabei um massive wirtschaft­liche Interessen der Industrien, die in den Vorzimmern der Macht ein- und ausgehen. Die nächste WTO-Runde findet im März statt. Ich bin gespannt, ob einige der Industriel­änder, die das bisher nicht unterstütz­t haben, unter den dramatisch­en Erfahrunge­n, die sie gerade machen, ihre Position überdenken.

STANDARD: Gibt es Fälle, bei denen das in der Vergangenh­eit geklappt hat?

Bachmann: Bei der HIV-Pandemie wurde ein Patent-Pool geschaffen, bei dem Unternehme­n freiwillig Patente einbringen können, die dann unter sehr klar definierte­n Bedingunge­n in Form von Lizenzen weitergege­ben werden können. Das war der Game-Changer.

„Ein Exportstop­p für Impfstoffe ist ein katastroph­aler Vorschlag.“Marcus Bachmann

STANDARD: Die EU fordert einen Exportstop­p für Astra-Zeneca-Impfstoffe – eine gute Idee? Bachmann: Das ist ein katastroph­aler Vorschlag. Die Folge ist, dass jeder beginnt, das verknappte Gut zu horten. Gerade in einer Pandemie können wir uns das nicht leisten. In einer globalisie­rten Welt kann man ein geimpftes Europa nicht abschotten.

STANDARD: Wie kommen Menschen in Krisengebi­eten an Impfstoffe?

Bachmann: Über die jetzigen existieren­den Verteilmec­hanismen haben die Menschen in Krisengebi­eten keine Chance auf Zugang. In Zukunft muss man über humanitäre Notfallkon­tingente nachdenken, damit die Impfstoffe in Gebiete gelangen, die von Regierunge­n gar nicht kontrollie­rt werden. Das sind genau die Gebiete, in denen wir arbeiten. Der Ebola-Impfstoff musste auch bei minus 70 Grad gelagert werden. Das im infrastruk­turlosen Kongo hinzubekom­men, ohne Dosen zu verlieren – es ist ein riesiger Aufwand. Aber wir haben die Erfahrung, solche Impfkampag­nen hinzubekom­men. Wir können das. Wir brennen darauf, dort, wo es niemand anderer tun kann, in die Bresche zu springen.

MARCUS BACHMANN (54) ist humanitäre­r Berater für Ärzte ohne Grenzen Österreich.

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Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa besucht ein Corona-Spital. Das Land zahlt den höchsten Preis für eine Dosis Astra-Zeneca-Impfstoff.
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