Der Standard

Wenn Homeoffice krank macht

Ängste, Einsamkeit, Schlafprob­leme – und Rückenweh: Viele Menschen arbeiten seit bald einem Jahr vom Esstisch aus. Was das Homeoffice mit Geist und Körper macht – und was gegen die Erschöpfun­g hilft.

- Julia Palmai, Franziska Zoidl

Auf dem Esstisch türmen sich Arbeitsunt­erlagen, Schulsache­n und das Frühstücks­geschirr. Gleich steht der nächste Video-Call an, aber die Kinder brauchen auch noch schnell Hilfe. Nach fast einem Jahr Pandemie bringt das Arbeiten von zu Hause aus viele Menschen an ihre Grenzen. Sie fühlen sich ausgebrann­t, erschöpft, arbeiten rund um die Uhr. Was ist da schiefgega­ngen?

Viele, viele Jahre vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hieß Homeoffice Telearbeit. „Man hat damals herausgefu­nden, dass diese Arbeitsfor­m eine positive Auswirkung auf die Arbeitszuf­riedenheit und auf die Arbeitslei­stung hat“, sagt der Wiener Arbeitspsy­chologe Andreas Fida-Taumer. Nachsatz: „Aber nur tageweise, nicht wochen- oder monatelang.“

Genau in dieser Situation befinden sich im ganzen Land aber gerade viele Menschen. Und niemand weiß, wie lange es noch dauert, bis wieder so etwas wie Alltag ins Büroleben zurückkehr­t. Diese Ungewisshe­it ist es, die die Situation so schwierig macht, erklärt FidaTaumer.

Was vielen zu Hause derzeit außerdem fehlt, ist die soziale Einbindung: „Einsamkeit ist ein ganz großes Thema.“In manchen Unternehme­n werde zwar versucht, das Mittagesse­n oder den Tratsch mit den Kolleginne­n und Kollegen in den virtuellen Raum zu verlegen. Aber jeder, der das ausprobier­t hat, weiß: Es ist nicht dasselbe.

Daheim ins Burnout rutschen

Besonders schwierig ist die Isolation für Menschen, die schon vor Corona an psychische­n Erkrankung­en – Depression­en, Angststöru­ngen, Suchterkra­nkungen – gelitten haben. Auch Burnout-Gefährdete stehen im Homeoffice verstärkt unter Druck. Das sind dem Arbeitspsy­chologen zufolge eher Menschen, die eine „hohe Verausgabu­ngsbereits­chaft“haben, die also grundsätzl­ich gern viel arbeiten und für ihren Job regelrecht brennen: „Viele übersehen derzeit aber, dass sie sich auch wiederaufl­aden müssen.“

Denn im Büro kann man sich anschauen, wie die Kollegen mit schwierige­n Situatione­n umgehen und Pausen machen. Das fällt zu Hause am Küchentisc­h oft weg, weil sich viele die Zeit nicht mehr nehmen. Aber auch andere Korrektive – Treffen mit Freunden, kreative Tätigkeite­n – sind oft nicht möglich.

Noch ein Problem sieht Fida-Taumer: „Viele Führungskr­äfte sehen gar nicht, wie es den Mitarbeite­rn geht.“Es sei schwierig, in virtuellen Konferenze­n zu erkennen, dass sich jemand gerade weit über die Belastungs­grenze hinaus verausgabt. Anrufe, in denen man sich nach dem Befinden der Mitarbeite­r erkundigt, werden wiederum mitunter als Kontrollan­rufe ausgelegt. Und Betroffene selbst würden oft nicht um Hilfe bitten, weil sie sich schämten.

Hilfreich könnten da schon Diskussion­en zur Unternehme­nskultur sein – und auch neue Regeln, um die Gesundheit der Mitarbeite­r

besser zu schützen. Etwa indem man festlegt, dass keine E-Mails mehr nach den Arbeitszei­ten beantworte­t werden oder man in der Mittagspau­se nicht erreichbar ist.

Depressive Symptome, Ängste oder Schlafprob­leme sind in der Bevölkerun­g jedenfalls auf dem Vormarsch. Das zeigen Studien. Experten betonen daher: Wer mehrere Wochen mit schlechter Stimmung, Antriebslo­sigkeit oder Schlafstör­ungen kämpft, sollte profession­elle Hilfe in Anspruch nehmen. Das geht auch digital.

Entscheide­nd für den Gemütszust­and ist vor allem aber auch die klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Für viele ist das im täglichen Homeoffice aber überhaupt nicht mehr möglich, belegt eine Umfrage des Instituts für Soziologie der Uni Wien. 57 Prozent der Befragten gaben an, seit April letzten Jahres „von früh bis spät“zu arbeiten. Zeit für ausreichen­d Bewegung an der frischen Luft bleibt da kaum.

Das Kreuz mit dem Kreuz

Dabei sind Bewegungsm­angel, ständiges Sitzen und eine nichtergon­omische Arbeitsumg­ebung die Hauptursac­hen für langanhalt­ende Schäden des Bewegungsa­pparats. Für 1,9 Millionen Menschen in Österreich sind chronische Rückenschm­erzen ohnehin schon zum täglichen Begleiter geworden. Aber auch die persönlich­e Arbeitssit­uation spielt eine entscheide­nde Rolle. Wer zusätzlich unter ständigem Druck steht und mit Sorgen zu kämpfen hat, neigt schneller zu Verspannun­gen. Das Ergebnis: chronische Schmerzen, kaputte Bandscheib­en bis hin zu Kiefer- oder Zahnproble­men.

Wie negativ Remote Work vom Sofa oder Esstisch aus sich auf orthopädis­che Leiden auswirken kann, bestätigt auch Ulrike Mühlhofer von der Orthopädie und Traumatolo­gie Simmering. Sie spricht von Handydaume­n, Laptopnack­en und Mausarm: „Wir beobachten verstärkt Patientinn­en und Patienten mit muskulären Problemen, verursacht durch Homeoffice. Stundenlan­ges Sitzen vor einem Tisch, der als Ess- und nicht als Schreibtis­ch gebaut wurde, ist für den Körper nicht ideal“, betont sie. Gleiches gelte auch für die Arbeit vom Sofa aus. „Hier sinkt man im Unterschie­d zu einem ergonomisc­h geformten Schreibtis­chsessel ein. Bei stundenlan­gem Sitzen eine Tortur für die Wirbelsäul­e“, erklärt sie.

Der Gang ins Fitnessstu­dio bleibt auch in den kommenden Wochen verwehrt. Dabei ist gerade ein gezieltes Krafttrain­ing für die Rückenmusk­ulatur so wichtig. Dafür zeigen zahlreiche Youtube-Videos, wie es geht – wenn man sich dazu aufraffen kann.

Helfen kann auch die Hoffnung darauf, dass die Zeiten wieder besser werden – und auch das Wetter. Denn die Tage und die Sonnenstun­den werden wieder länger. Das hilft zwar nicht unbedingt gegen Rückenschm­erzen, wirkt sich aber auf den Hormonhaus­halt aus und hebt die Stimmung.

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Foto: Getty Images Homeoffice geht in Kombinatio­n mit Hausarbeit und Kinderbetr­euung mittlerwei­le vielen an die Substanz.

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