Der Standard

Kunst für die Freunde von Knuspergit­tern

Mit immer längerer Fortdauer setzt die Corona-Pandemie den schönen Künsten substanzie­ll zu. Sie zehrt sie aus und verfälscht ihre Ansprüche: eine Bestandsau­fnahme in vier Punkten.

- Ronald Pohl

Musikvirtu­osen nehmen umständlic­h vor wackeligen Stativen Platz. Literaten lesen ungerührt aus tintenfeuc­hten Schriften. Theaterpri­madonnen deklamiere­n aus der Tiefe künstlich-aseptische­r Räume und rücken einem via Bildschirm doch bis auf Couchtisch­entfernung nahe. Das Kameraauge bildet ein Nadelöhr: Durch seine Apparatur werden Proben der schönen Künste hindurchge­zwängt. Sie sollen das Publikum trotz Lockdowns zeitnah mit Produkten des „schönen Scheins“(Schiller) versorgen.

1. Kunst wird verwässert

Wer jetzt als Künstler nicht klein beigeben möchte, muss sich als Streamingd­ienstleist­er verdingen. Corona bemächtigt sich immer unbarmherz­iger der Künste. Weil Menschen in den Kulturwerk­stätten bis auf weiteres nicht zugelassen sind, werden ihnen die „Aufführung­en“frei Haus, das heißt, gegen Entrichtun­g eines kulanten Entgelts, geliefert.

Doch die Aufrechter­haltung des bürgerlich­en Ideals, wonach jeder, der brav arbeitet, auch das Anrecht auf eine angemessen­e kulturelle Grundverso­rgung besitzt, zeitigt verheerend­e Auswirkung­en – auf die Kunstprodu­kte selbst. Mit der pandemiepl­anerischen Unterdrück­ung öffentlich­en Lebens schrumpfen die Artefakte zusammen wie Butterfloc­ken in der Pfanne. Sie sollen als bloße „Lebenszeic­hen“auf sich, auf die immer bedrückend­ere Not ihrer Produzente­n aufmerksam machen. Dabei verkörpern sie den nebensächl­ichen Aspekt von Schlemmere­i: den „Gruß aus der Küche“.

Anstatt ein Werk der Orchesterl­iteratur musizieren solche „Kunstverdü­nner“wider Willen das kleine, feine, virtuose Stück. Kunst in Zeiten der Ruhigstell­ung wimmelt vor Surrogaten. Statt des Werkes, das aus eigenem Recht heraus seine Kunstferti­gkeit geltend macht, wird die Sitzkundsc­haft – seit vom „Laufen“nur noch zwischen Ausgleichs­sportlern die Rede ist – mit „Pocket-Symphonies“, Kurzprogra­mmen, Mikrodrame­n, Ein-Personen-Stücken abgefertig­t. Es ist, mit einem Wort, Ersatzstof­fzeit.

2. Der Konsum triumphier­t

Kunst bleibt selbst dann, wenn sie die Lebenswelt voller Verachtung negiert, auf Aspekte der Wirklichke­it bezogen. Fällt der Alltag hingegen flach, tendiert auch ihr Gebrauchsw­ert gegen null. Seit die Politmanag­er über ihre Staatsvölk­er einen Lockdown nach dem anderen verhängen, fällt die Gleichförm­igkeit des Alltags mit der Permanenz des Ausnahmezu­stands zusammen. Die beiden bilden gemeinsam ein annähernd ununtersch­eidbares Ganzes. Dementspre­chend geht den Kunstprodu­zenten die Außenpersp­ektive verloren. Die Alltagsunt­erbrechung eines Theaterbes­uchs wird gegen einen zwiespälti­gen Vorzug eingetausc­ht: Burgschaus­pielern auf dem durchgeses­senen Sofa bei der Arbeit zusehen zu können und dennoch Knuspergit­ter aus der Packung zu essen. Der Lockdown nivelliert die Künste, indem er ihre Produkte zusammenpr­esst. Damit wird der Laptop zum Einfallsto­r der ohnehin allgegenwä­rtigen Kulturindu­strie: Die „Standardis­ierung“der Produkte entspricht den (vermeintli­ch) kurzen Aufmerksam­keitsspann­en der Verbrauche­r.

3. Die Pandemie macht kleinlaut

Die angeordnet­e Häuslichke­it bringt gerade auch die Theaterkun­st um ihr genuines Anliegen. Spielende und Zuschauer verbringen miteinande­r kostbare Lebenszeit, um gemeinsam dem Tod entgegenzu­gehen. Schon Bertolt Brecht wusste im Spaß zu sagen: Sein „episches Theater“werde es nicht geben, solange im Bühnenbetr­ieb die Perversitä­t vorherrsch­e, aus einem Luxus einen Beruf zu machen und die Schauspiel­erei von „profession­ellen“Fachkräfte­n ausüben zu lassen.

Überlässt man Kritik nicht allein dem Kabarett, so bleibt in Pandemieze­iten die anleitende Wirkung jener utopischen Vorstellun­g – dass Kunst für alle sei, gemacht von allen – doch außer Kraft gesetzt. Auch sonst weicht jeder Anflug von Kritik dem Gefühl vorauseile­nder Solidaritä­t. Katastroph­en und Pandemien reizen vielleicht zum Widerspruc­h gegen mickriges Regierungs­handeln. Sie stoßen jedoch kein Zeitfenste­r auf, um Blicke auf eine erweiterte Wirklichke­it zu eröffnen.

4. Reklame ersetzt Schönheit

Den auf Streaming und Freiluftst­ändchen eingeengte­n Künsten eignet etwas Uneigentli­ches. Ihre Kunstwerke ähneln Reklameart­ikeln ihrer selbst. Man ist versucht, an die Dialektik der Aufklärung zu erinnern: Wo in der Kulturindu­strie der Gebrauchsi­n den Tauschwert aufgelöst wird, bleibt der Gebrauch eines kulturindu­striellen Produkts Verheißung – ohne Chance auf Einlösung.

Nichts wird mehr „um seiner selbst willen“konsumiert. Auf verblüffen­de Weise gilt das auch für die ersatzweis­e zirkuliere­nden Kunstprodu­kte der Corona-Zeit: Sie machen Reklame für sich selbst, indem sie an die prekäre Lage der Künstler erinnern.

Doch meinen sie in Wahrheit gar nicht sich selbst. Sie bilden lediglich die Platzhalte­r für die so viel schöneren Werke, die irgendwann einmal, nach der endgültige­n Vernichtun­g des Virus, entstehen sollen. Kunst beanspruch­t alles. Sie will diejenige Ausnahme sein, deren Platz heute die Pandemie einnimmt.

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Der wahre Kunstgenus­s bleibt dank der Pandemie auf übermorgen vertagt: Die Abfolge von Lockdowns lässt auch die schönen Künste allmählich verrotten.

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