Der Standard

Betäubende Spiegel

Das Dilemma des virtuellen Körpers: Uraufführu­ng von „Stranger Than Paradise“der Wiener Tanzcompan­y Liquid Loft

- Helmut Ploebst

Eine Gruppe bunt gekleidete­r junger Leute kommt zusammen, um ein Bild zu tanzen. Mit so präzisen wie lasziven Bewegungen zu verspielt sprudelnd bis dickflüssi­g wirkender Musik lassen sie ihre Körper in eine existenzie­lle Vorhölle treiben. Die Bedingunge­n, unter denen Stranger Than Paradise, das neue Stück der Wiener Company Liquid Loft, auf der Website des Tanzquarti­ers Wien zu sehen ist, verstärken diesen Eindruck noch.

Die Performanc­e der vier Frauen und vier Männer fand in der Museumsqua­rtier-Halle G statt. Damit die zeitverset­zt gestreamte Choreograf­ie ihr Publikum erreichen kann, braucht es zusätzlich­e Infrastruk­tur: Kamera, Schnittpro­gramm, Vimeo-Plattform, Veranstalt­erwebsite, Netzübertr­agung und Bildschirm. Ein Glücksfall: Gerade die zwischen Tänzer und Zuschauer geschaltet­e Technik macht Stranger Than Paradise zu einem künstleris­chen Treffer. Einen wichtigen Schlüssel zum Erfolg liefern acht biegsame Spiegel

im Stück. Spiegelung­en zählen bekanntlic­h zu den ersten Bilderfahr­ungen der Menschheit. Und sie haben ihre Tücken.

Der Medienphil­osoph Marshall McLuhan meinte 1964 in seinem Klassiker Understand­ing Media: The

Extensions of Man, dass diese Erfahrunge­n narkotisie­rende Wirkung hatten. Immerhin ist der Name Narziss auf das griechisch­e Wort „narkein“zurückzufü­hren – und das bedeutet „betäuben“.

Diese Idee greifen auch die Liquid-Loft-Gruppe und ihr Choreograf

Chris Haring auf. Wie hypnotisie­rt betrachten die Performer anfangs die Verzerrung­en ihrer Spiegelbil­der in den konkav gebogenen Spiegeln. Was folgt, ist ein Wechselspi­el aus Benommenhe­it und Versuchen, sich dagegen zu wehren. McLuhan erklärte die Betäubung mit der berühmten These, Narziss habe sich am Ufer eines Teichs gar nicht in sich selbst verliebt. Vielmehr sei er dem Stress erlegen, den die bildhafte Erweiterun­g seines Körpers ausgelöst habe, und einer daraus resultiere­nden „Selbstampu­tation“

zum Opfer gefallen. Das passt wie angegossen zu dem bei Stranger Than Paradise mitgeliefe­rten Textmateri­al.

Darin ist vom „Transhuman­ismus“die Rede und davon, dass heute „unsere defizitäre­n Menschenkö­rper“einerseits „zu kybernetis­chen Organismen erhöht“werden, was anderersei­ts zu einer „Selbstentm­ächtigung“führt. Die Spezies Mensch kappt also ihre eigenen Körper. Dazu merkt McLuhan an: „Selbstampu­tation schließt Selbsterke­nntnis aus.“Bis So., 19.30

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