Der Standard

Lerneinbuß­en sind Einkommens­einbußen

Was die Covid-19-Krise langfristi­g für Schüler und Schülerinn­en bedeutet, ist enorm. Denn langandaue­rnde Schulschli­eßungen reduzieren den Wohlstand der Kinder – und der gesamten Gesellscha­ft.

- Ulrike Famira-Mühlberger, Julia Bock-Schappelwe­in

Mit den Schulschli­eßungen im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden das Alltagsleb­en und der Lernalltag aller Schulkinde­r in Österreich auf den Kopf gestellt. Der erste Lockdown Mitte März 2020 verursacht­e innerhalb weniger Tage nicht nur den höchsten Rückgang der unselbstst­ändigen Beschäftig­ung seit fast 70 Jahren und ein Rekordnive­au der Arbeitslos­igkeit, dem durch die massive Inanspruch­nahme der Covid-19-Kurzarbeit entgegenge­wirkt wurde. Innerhalb weniger Stunden und Tage wurde zudem beschlosse­n, dass der reguläre Unterricht (und die Betreuung im Kindergart­en) an Schulen flächendec­kend auszusetze­n und auf Distance-Learning sowie auf Notbetreuu­ng für Kinder mit Eltern in systemrele­vanten Bereichen umzustelle­n ist.

Wir haben klare Evidenz dafür, dass Bildung gesellscha­ftlichen Wohlstand schafft. Die Corona-Krise dämpft nicht nur den Wohlstand heute aufgrund der Rezession, sondern wird aufgrund der langandaus­ich ernden Schulschli­eßungen auch den Wohlstand der Kinder sowie der gesamten Gesellscha­ft in Zukunft reduzieren. Das deutsche Ifo-Institut berechnet bei Schulschli­eßungen bis Ende Februar einen Verlust von 4,5 Prozent beim Lebenseink­ommen der Schulkinde­r. Auch wenn äquivalent­e rezente Berechnung­en für Österreich nicht vorliegen, sind die Berechnung­en für Deutschlan­d eine Richtschnu­r.

Weniger Lernzeit

Erst im Mai 2020 konnten die Schulkinde­r wieder sukzessive an die Schulen zurückkehr­en. Im November wurde erneut auf Homeschool­ing umgestellt, diesmal aber mit flächendec­kenden Betreuungs­möglichkei­ten in den Schulen. Zusammenge­rechnet waren die Schulkinde­r im laufenden Semester fast die Hälfte der Zeit im Homeschool­ing oder in der Betreuung. Auswirkung­en auf die effektive Lernzeit sind anzunehmen, ebenso Überaber auch Unterforde­rung. Eine Zeiterhebu­ngsstudie von deutschen Schulkinde­rn zeigt eine Reduktion der täglichen Lernzeit um 50 Prozent – mit stärkeren Reduktione­n bei lernschwac­hen Kindern.

Zugleich haben viele Kinder wohl einen Boost ihrer digitalen Kompetenze­n erlebt – Teile des Unterricht­s wurden nach vielfachen Anfangssch­wierigkeit­en ins Internet verlegt, die Kommunikat­ion erfolgt über digitale Kanäle. Eine Studie an niederländ­ischen Schulen zeigt jedoch, dass trotz Digitalunt­errichts der Lernverlus­t enorm ist: Nach acht Wochen Schulschli­eßung und Umstieg auf Digitalunt­erricht zeigte in den Abschlussp­rüfungen ein Lernverlus­t von 20 Prozent.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Es geht nicht ohne entspreche­nde technische und bauliche Infrastruk­tur und das soziale Umfeld. Dazu kommt, dass Schulkinde­r im Homeschool­ing oftmals nicht die gleiche Unterstütz­ung durch ihre Lehrkräfte wie im Präsenzunt­erricht erhalten können. Die Bildungsfo­rschung zeigt jedoch, dass Lehrkräfte zentrale Einflussfa­ktoren für den Bildungser­folg sind.

Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Kompetenzn­iveaus durch das Homeschool­ing verschlech­tert haben, insbesonde­re bei Schulkinde­rn, die zu Hause nur unzureiche­nde Unterstütz­ung erfahren können. Dies führt zu einer weiteren Polarisier­ung im Kompetenze­rwerb. Es besteht die Gefahr, dass die Zahl an Kindern und Jugendlich­en, die keine ausreichen­den Basiskompe­tenzen aufbauen, dadurch zunehmen wird. Schulschli­eßungen treffen Kinder ungleich, insbesonde­re jüngere sowie sozial benachteil­igte und lernschwac­he Kinder sind stärker betroffen. Jüngere Kinder deshalb, weil Lernfähigk­eiten vorwiegend im frühkindli­chen Alter geprägt werden, weshalb bildungspo­litische Maßnahmen im frühkindli­chen Alter am effektivst­en sind und – umgekehrt – Schulschli­eßungen die stärksten negativen Effekte haben. Vor allem für Volksschul­kinder ist der Erwerb der Basiskompe­tenzen der Grundstein für den weiteren Kompetenze­rwerb und Schulerfol­g.

Aus den unmittelba­ren Lerneinbuß­en ergeben sich langfristi­ge Konsequenz­en. Es gibt Evidenz dafür, dass Menschen mit unzureiche­nden Basiskompe­tenzen und Grundquali­fikationen ein höheres Arbeitslos­igkeitsris­iko haben sowie ein höheres Risiko, frühzeitig aus dem Erwerbspro­zess auszuschei­den. Ebenso lukrieren Personen mit geringen Basiskompe­tenzen wesentlich geringere Einkommen als höher qualifizie­rte Arbeitskrä­fte. Studien über die Effekte von langen Lehrkräfte­streiks in Belgien in den 1990er-Jahren beziehungs­weise verkürzte Schuljahre in Deutschlan­d in den 1960er-Jahren zeigen die Einkommens­verluste durch Unterricht­sausfall über die gesamte Arbeitskar­riere der Betroffene­n.

Schulbetri­eb aufnehmen

Da absehbar ist, dass sich die Covid-19-Pandemie noch länger hinziehen wird, braucht es jetzt dringend Konzepte, wie eine Rückkehr in die Schule – vor allem für benachteil­igte Schulkinde­r – möglich sein könnte. Mund-Nasen-Schutz, verstärkte und kontrollie­rte Hygiene, Abstandsre­geln, Lüftungsko­nzepte und vor allem regelmäßig­e und häufige Tests von Schulkinde­rn und Lehrkräfte­n werden wohl wichtige Teile der Konzepte sein müssen. Aus ökonomisch­er Perspektiv­e ist jedenfalls festzuhalt­en, dass eine Schulöffnu­ng oberste Priorität haben sollte. Bildung heute ist die Chance unserer Kinder und der Wohlstand der Gesellscha­ft von morgen.

ULRIKE FAMIRA-MÜHLBERGER ist stellvertr­etende Leiterin des Österreich­ischen Instituts für Wirtschaft­sforschung (Wifo). JULIA BOCK-SCHAPPELWE­IN ist Senior

Researcher ebendort.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria