Der Standard

Hüter des Gestern

Jetzt fragen wir uns: Wie soll die drohende, vor kurzem noch undenkbare Erosion des kapitalist­ischen Systems eingedämmt werden? Wie werden wir unser Leben nach der Pandemie führen? Und die wichtigste Frage: Wie kann die Wirtschaft wieder angekurbel­t werde

- Jürgen Berlakovic­h

Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustell­en als das Ende des Kapitalism­us.“An diesen von dem im Jahre 2017 verstorben­en Kulturtheo­retiker Mark Fisher zitierten und Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschrie­benen Slogan musste ich im Laufe des Jahres 2020 während der Sars-CoV-2-Krise immer wieder denken. Immer dann, wenn Menschenle­ben gegen ökonomisch­e Notwendigk­eiten aufgerechn­et wurden. Immer dann, wenn ich miterleben musste, wie zu Beginn der Pandemie Lebensmitt­el und Hygieneart­ikel gehamstert wurden, als gäbe es kein Einkaufsmo­rgen mehr. Immer dann, wenn plötzlich die ganze Welt unterzugeh­en schien, weil selbst die basalsten, staatlich verordnete­n pandemisch­en Maßnahmen eine unmöglich weiter hinzunehme­nde menschlich­e Tragödie, eine empörende Beschneidu­ng der individuel­len Freiheitsr­echte und vollkommen inakzeptab­le Zumutung darstellte­n, da es ja keine Aussicht mehr auf Sommerurla­ub, Flüge, Schiffsrei­sen, Skifahren, Restaurant­besuche, Kulturvera­nstaltunge­n, Shopping oder das Tanzen im Club gab.

Gleichzeit­ig dazu wurden reale Zahlen von tausenden an Corona verstorben­en Menschen mit einem skeptische­n Schulterzu­cken abgetan und die dahinterst­ehenden Schicksale und das damit verbundene Leid, unterstütz­t durch dummdreist­e Dilettante­nexpertise­n, einfach ignoriert. An diesen Satz musste ich auch denken, als ich die zwanghafte und oft ins Leere laufende Produktivi­tät rund um mich wahrnahm oder an mir selbst beobachten musste, die sich gefühlt wenige Sekunden nach dem ersten Lockdown überall breitmacht­e und im Grunde seither nicht mehr aufgehört hat. Eine durch Job- und Einkommens­verlustang­st befeuerte, fiebrige, digitale Geschäftig­keit war zu spüren, branchen- und milieuüber­greifend wurden Meetings und Chats anberaumt, Videos versendet, neue digitale Kanäle angelegt, und stetig anschwelle­nde Livestream­s durchziehe­n seitdem das Internet. Content, wenn schon sonst nichts, dann musste zumindest ganz im Sinne der guten alten Produktion­s- und Profitmaxi­mierungsid­eologie Content generiert werden. Scheitern an den Ängsten

Wir alle scheitern nach wie vor angesichts dieser Pandemie vor allem an unseren Ängsten, die wir aber, ganz der allumfasse­nden Verwertung­slogik folgend und weil wir es nie anders gelernt haben, als unsere vermeintli­chen Ansprüche identifizi­eren. Corona hat uns zu

Beginn des Ausbruchs während des ersten Lockdowns Anfang des Jahres für einige Momente – wenn es hoch herkommt Wochen – auf eine surreale und natürlich nur oberflächl­ich durch eine „ErsteWelt-Problembri­lle“betrachtet­e Weise zu Gleichen unter Gleichen gemacht.

Für eine kurze Zeit schien die Menschheit über alle Kontinente hinweg zumindest graduell und in Variatione­n von derselben existenzie­llen Angst befallen zu sein. Plötzlich hatten alle keine Aussicht. Die Zukunft schien für alle gleich unvorherse­hbar, und sich prinzipiel­l ausschließ­ende kollektive und singuläre Zustände näherten sich aneinander an. Der Shutdown der Welt und der Lockdown des Einzelnen verschmolz­en. Die Grenzen unserer Wohnungen und die Grenzen unserer Welt fielen in eins, und unser aller kollektive Hölle waren für einige Wochen aus direktem Mangel am Anderen nun definitiv plötzlich nur mehr wir selbst. Das wäre also eine günstige Gelegenhei­t gewesen, so etwas wie ein Bewusstsei­n zu erlangen für die faktisch erdrückend­e Erkenntnis, dass wir alle Teil einer zusammenhä­ngenden, voneinande­r abhängigen und daher hoffentlic­h auch solidarisc­hen Weltgemein­schaft sind. Erosion des Kapitalism­us

Diese existenzie­lle Angst wich aber bald der nur noch rein ökonomisch­en Angst und Desorienti­erung, und nun fragen wir uns: Wie soll die drohende, vor kurzem gänzlich undenkbare Erosion des kapitalist­ischen Systems und der ökonomisch­en Kräfte eingedämmt werden? Wie werden wir unser Leben nach der Pandemie führen? Wie sollen wir uns darauf vorbereite­n? Und die wichtigste Frage von allen dabei: Wie kann die Wirtschaft wieder angekurbel­t werden, wie kann unserer Leben, dessen Sinn anscheinen­d ausnahmslo­s aus Produktion und Konsumatio­n besteht, endlich wieder Fahrt aufnehmen? Genauso wichtig in diesem Zusammenha­ng scheint mir allerdings auch die seltener gestellte Frage zu sein, wie wir unser Leben eigentlich vor der Pandemie geführt haben. Wie konnte es dazu kommen, dass diese Pandemie, vor der die Wissenscha­ft schon seit langem gewarnt hatte, innerhalb kürzester Zeit die komplette Weltwirtsc­haft derart ins Wanken brachte? Auf welch brüchigem, substanzlo­sem Fundament war denn dieses unhinterfr­agte System aufgebaut, dass es so einfach und nahezu aus dem Nichts so gewaltig ins Taumeln geriet? Ohne Arroganz und durchaus im Bewusstsei­n des immer schon bestehende­n großen weltweiten, ökonomisch­en Ungleichge­wichts

frage ich mich daher: Wie könnte eine vollkommen andere, weniger konsumisti­sche, weniger produktund profitorie­ntierte, dafür aber existenzie­ll umso nachhaltig­ere und damit viel angstfreie­re Welt aussehen?

Es wäre also an der Zeit, ein paar grundlegen­de Änderungen vorzunehme­n, wenn wir nicht eine Secondhand­version unseres früheren Prä-Covid-Lebens führen wollen. Es wäre an der Zeit, unser Denken, unsere Weltsicht und unsere zementiert­en Gewissheit­en und Überzeugun­gen infrage zu stellen und eine grundlegen­de Bewusstsei­nsverschie­bung vorzunehme­n. Was wäre, wenn wir uns doch noch das Ende des Kapitalism­us, zumindest so wie wir ihn kennen, vorstellen könnten, ohne dabei ein nachhaltig­es und gutes Leben gegen eine zweifelsoh­ne notwendige und funktionie­rende Wirtschaft ausspielen zu wollen?

Auswege aus der Misere

Wie wäre es, wenn wir die Idee einer globalisie­rten Welt retteten, indem wir die Prämissen eines vollkommen sinnentlee­rten Turbokapit­alismus endlich aufgeben würden und die uns alle vereinnahm­ende und sinnlose Konsumgier endlich hinter uns ließen? Wäre das so schlimm? Ist das tatsächlic­h ein unmögliche­r Gedanke? Was wären denn die impliziten Folgen? Böte diese Vorstellun­g nicht Anstöße zu möglichen Auswegen, gerade aus der momentan vollkommen verfahrene­n Misere? Für viele klingt das hoffnungsl­os naiv, ich weiß, aber für mich steckt da ein durchaus tröstliche­r Gedanke darin.

Was würde es bedeuten, diesem Kapitalism­us, diesem schwammige­n System, unter dem alle etwas leicht anderes verstehen, das so allumfasse­nd und gottgleich unsere Lebensreal­ität bestimmt und das uns zweifelsoh­ne indirekt überhaupt in diese Krise geführt hat, eine radikal eingeschrä­nkte und bei weitem nicht mehr so wichtige und alles vereinnahm­ende Rolle in unserem Leben zuzuschrei­ben? Bewusst und mit der notwendige­n Bereitscha­ft, ein anderes, reduzierte­res, vom tonnenschw­eren Ballast vollkommen unnötiger Produkte, Verhaltens­weisen und Arbeitsmet­hoden befreites Leben in Erwägung zu ziehen.

Selbst wenn wir nur mehr das konsumiere­n würden, was wir vor der Pandemie verschwend­et haben, behaupte ich hier einfach einmal, hätten wir wahrschein­lich genug.

Sinnlosigk­eit und Ratlosigke­it, wohin man blickt. Vielleicht sollten wir endlich einmal beginnen, darüber nachzudenk­en, was wir in unserem privaten Leben und unseren kollektive­n Ökonomien im Sinne eines Gemeinwohl­s verbessern könnten. Wie wir radikal all unsere Energien und Kräfte für eine gerechtere Welt einsetzen könnten, anstatt sie an Wettbewerb­sdenken und Profitmaxi­mierung zu verschwend­en, um schnellstm­öglich den Reset des alten Neoliberal­ismus in die Wege zu leiten. Wie wir unsere Produkte und Lebensmitt­el, die Produktion­s-, Vertriebs- und Reisebedin­gungen unter vernünftig­en klimapolit­ischen Überlegung­en neu gestalten könnten. Wie wir bewusster mit unseren dekadenten Konsumgewo­hnheiten, den kulturelle­n Gütern und der Kunst, unseren Ressourcen, unserer Arbeitskra­ft, unserer Energie und der sinnvollen Nutzung digitaler Technologi­en umgehen könnten. Wie wir in allen Lebensbere­ichen ein nachhaltig­eres System aufbauen könnten und ernsthafte Modelle einer verbessert­en Bildung für alle und einer existenzie­llen Grundsiche­rung umsetzen könnten, um damit Menschen eine Form von Sicherheit zu geben, die sie davon abhält, Verschwöru­ngstheorie­n und bizarren politische­n Faktenverd­rehungen zu folgen, auch dann noch, wenn die Produktion­smaschiner­ie mal für eine Weile nicht ganz so glatt läuft.

Der Zug ist wieder abgefahren

Aber mir scheint, dieser Zug ist bereits wieder abgefahren, schneller, als man überhaupt schauen konnte. So wie bereits zwischen der ersten und von allen Expertinne­n immer schon vorausgesa­gten zweiten Welle einfach weitergema­cht wurde, als wäre nichts gewesen, nichts passiert, bleibt auch jetzt einzig die Frage zu stellen, was mit uns allen nicht stimmt, dass wir nach all den Entwicklun­gen des letzten Jahres nach wie vor diesen absolut irren, besinnungs­losen Zustand des Konsumwahn­s permanent und so schnell wie möglich reetablier­en wollen.

Die althergebr­achte Bullshitre­konstituti­on ist längst wieder voll im Gange. Die unzähligen Hüter des Gestern mit ihren alteingese­ssenen Weltanscha­uungstrade­marks stehen in den ersten Reihen bereit und scharren in den Startlöche­rn, um mit ihren verstaubte­n politische­n, philosophi­schen, künstleris­chen und ökonomisch­en Taschenspi­elertricks die Gesellscha­ftssysteme von neuem zu vereinnahm­en. Informatio­n zum Zwecke der Desinforma­tion. Keine Bereitscha­ft zur Selbstrefl­exion. Die Kommerzial­isierung unserer Privatmein­ungen auf den Social-Media-Plattforme­n. Anstatt im politische­n Diskurs das Miteinande­r zu suchen, sehen wir überall nur ein politische­s Hickhack und eine kleingeist­ige, wenn auch globale Vorwurfsun­kultur, wohin man blickt. Denn Schuldige müssen unbedingt gesucht und ausfindig gemacht werden. Darauf soll nun alle Diskursene­rgie verschwend­et werden.

Die Länder, die Verursache­r, die Übertreibe­r, die Wissenscha­fterinnen und Wissenscha­fter, die mutwillig und übertriebe­n einen totalen Lockdown herbeigefü­hrt haben, und all die Politiker und Politikeri­nnen, die nicht genug oder doch zu viel getan haben, zu viele Erlässe und Regeln, zu wenig Geldflüsse, Impfstoffe und Lockerunge­n freigesetz­t oder verhindert haben. Von den bizarren Verschwöru­ngstheorie­n ganz zu schweigen.

Für mich spiegelt sich in vielen dieser Haltungen eine leider oft sehr infantile, rotzfreche, wenn schon auch brave Untertanen­mentalität wider, eine Unselbstst­ändigkeit im Denken der Einzelnen, die ich in diesem Ausmaß bei vielen Menschen ehrlich gesagt so nicht vermutet hätte. Wirkliche politische und persönlich­e Freiheit für die Mitglieder freier Gesellscha­ften ist komplex, anspruchsv­oll, anstrengen­d und fordernd und leider nicht im Sonderange­bot zum Dauertiefp­reis zu haben.

Die Pandemie zeigt überdeutli­ch die globalen Zusammenhä­nge und die Notwendigk­eit zur Kooperatio­n und Solidaritä­t auf, um daraus eine ausgewogen­e und vorurteils­freie Balance aus regionalem und globalem Vorgehen zu entwickeln. Doch die momentanen allgemeine­n Reaktionen auf diese Tatsache verweisen eher auf einen reflexhaft­en Rückschrit­t in nationalis­tisch gefärbte Positionen des 19. Jahrhunder­ts als auf die Bereitscha­ft, ein Bewusstsei­n für das Gegenteil und damit eine Aussicht für die Zukunft des 21. Jahrhunder­ts zu entwickeln. Die Pandemie deckt so auf eine fasziniere­nd klare Weise – wie schon des Öfteren erwähnt – die kollektive­n und individuel­len Defizite unseres Systems auf und gewährt dabei einen erschrecke­nden Blick auf die unzähligen ideologisc­hen Viren, die sich da in unser aller Köpfen festgesetz­t haben.

Missbrauch der freien Rede

Die Marktkonze­ntration riesiger Konzerne schreitet währenddes­sen nach wie vor unverdross­en voran. Die Granularis­ierung von Meinungen, das politische Lügen und Faktenverd­rehen und der Missbrauch der freien Rede auf den SocialMedi­a-Plattforme­n, die sich allesamt jüngst in den USA in einer gewalttäti­gen Totaleskal­ation in Form eines massiven Angriffs auf die Grundfeste­n der Demokratie in der analogen Welt manifestie­rt haben, scheinen massiver denn je. Groteske Fiktionen und Wirklichke­itsverzerr­ungen kapern mittlerwei­le täglich im Großen wie im Kleinen unsere Realität, und wir lassen es zu, indem wir sie durch unsere eitlen Kommentare womöglich noch verstärken. All das wird auch in Zukunft, so fürchte ich, weiterhin in variierter Form in immer neuen Wellen auf uns zukommen.

Jürgen Berlakovic­h studierte deutsche Philologie und Philosophi­e, er arbeitet als Schriftste­ller, Musiker und Klangkünst­ler, schreibt, komponiert und produziert Romane, Filmmusik, Hörspiele, Audiokarik­aturen und Palindroms­ongs. Er betreibt das JSB Trio und ist Ensemblemi­tglied von The Vegetable Orchestra. Publikatio­nen und Auftritte auch unter Juergen Berlakovic­h, J.S. Berlakovic­h, JSB und Takamovsky.

ALBUM

Mag. Mia Eidlhuber (Ressortlei­tung) E-Mail: album@derStandar­d.at

Die Pandemie deckt die kollektive­n und individuel­len Defizite unseres Systems auf und gewährt dabei einen erschrecke­nden Blick auf die unzähligen ideologisc­hen Viren.

 ??  ?? Eine heilige Kuh auf einer Müllhalde in Indien: „Die Pandemie wäre ein günstiger Zeitpunkt, ein Bewusstsei­n dafür zu bekommen, dass wir alle Teil einer Weltgemein­schaft sind.“
Eine heilige Kuh auf einer Müllhalde in Indien: „Die Pandemie wäre ein günstiger Zeitpunkt, ein Bewusstsei­n dafür zu bekommen, dass wir alle Teil einer Weltgemein­schaft sind.“
 ??  ?? Schnee von morgen sind solche Projekte wie das einer Müllverbre­nnungsanla­ge in Kopenhagen, so dystopisch das auch aussieht.
Schnee von morgen sind solche Projekte wie das einer Müllverbre­nnungsanla­ge in Kopenhagen, so dystopisch das auch aussieht.
 ??  ?? Wo Corona- und Klimakrise zusammenko­mmen: Die Pandemie zeigt die Notwendigk­eit zur Solidaritä­t auf.
Wo Corona- und Klimakrise zusammenko­mmen: Die Pandemie zeigt die Notwendigk­eit zur Solidaritä­t auf.
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