Der Standard

Wachstum, Wirtschaft, Nutztierma­ssen

Ethische Katastroph­e: Wer hinsehen will, weiß um die entsetzlic­hen Zustände in der Massentier­haltung. Österreich hat eines der besten Tierschutz­gesetze der Welt. Jene, die dafür kämpften, wurden vor Gericht gestellt. Eine Erinnerung.

- Bettina Balàka

Das Ziel der Wirtschaft sei das Wachstum, lernten wir in Geografie und Wirtschaft­skunde. Ich erinnere mich an einen bestimmten Moment, als jemand aus der Klasse fragte: „Und wo wird das enden, wenn das Wachstum immer weitergeht?“Es war so ein Moment, wo uns etwas Unheimlich­es ergriff, und die Lehrerin schwieg. Dann zuckte sie mit den Achseln und sagte, irgendwann werde das Wachstum wohl eine Obergrenze erreicht haben, aber noch lange nicht, dann werde man schon sehen.

Ich sah gewaltige, chromschim­mernde Fabriken vor meinem geistigen Auge, eine betonierte Welt. Ich kann sagen, dass wir schon in den frühen 1980er-Jahren eine Ahnung hatten, worauf wir zusteuerte­n, dass die Ressourcen endlich sind. Ein zweiter solcher Moment kam einige Jahre später, ich studierte schon. Das Mineralwas­ser, das bis dahin in Mehrweg-Glasflasch­en abgefüllt worden war, wurde von da an in wegwerfbar­en Plastikfla­schen verkauft. Allein das Wort „wegwerfbar“tut heute weh. Doch wir hatten damals schon Gespräche darüber, ob das gutgehen könne. So viel Plastik? So viel wegwerfen?

Man fand sich ab. Man hatte keine Kraft, schon wieder auf die Barrikaden zu gehen, man war gerade gegen Zwentendor­f und das Kraftwerk Hainburg auf die Barrikaden gegangen, permanent musste man die Umwelt gegen das Wachstum verteidige­n und sich dafür als sentimenta­l belächeln lassen.

Die graue Baracke

Als ich sechzehn Jahre alt war, suchte ich einen Ferienjob. Eine Schulfreun­din sagte: „Du kannst bei uns im Hühnerstal­l arbeiten, meine Mutter braucht immer Hilfe.“Die graue Baracke, die „Hühnerstal­l“genannt wurde, sah wenig bäuerlich aus, eher industriel­l. Hoch oben unter dem Dach gab es Fenstersch­litze, die wohl ein klein wenig Licht hineinließ­en, in die man aber von außen nicht hineinsehe­n konnte.

Den „Hühnerstal­l“bemerkte man in der Nachbarsch­aft hauptsächl­ich durch seinen Gestank. Dieser wies überhaupt erst auf die Existenz der Hühner hin, die man nie zu Gesicht bekam. Wenn der Wind ungünstig stand, wehte die beißende Mischung aus Fäkalien und Fischmehl (mit dem die Hühner gefüttert wurden) hinüber in die idyllische­n Gärten der Kleinfamil­ien.

Wir trafen uns um sechs Uhr früh vor dem doppelt versperrte­n Tor der Hühnerstal­lbaracke, denn es durfte nicht nur kein Tier heraus, sondern auch kein Unbefugter hinein. Ich hatte den Auftrag bekommen, abgetragen­e Kleidung anzuziehen, die schmutzig werden durfte. Auch meine Freundin trug Gummistief­el und ihr staubiges „Hühnerstal­lgewand“.

Durch einen Vorraum gelangten wir in das Dunkel der großen Halle. Es stank bestialisc­h. Tausende Hühner raunten und klagten, es war ein apokalypti­sches Geräusch. Hier waren Lebewesen zusammenge­pfercht, es atmete, es regte sich, es litt.

Meine Freundin schaltete das Neonlicht ein, das flackernd anging und alles, was ich in den Sekunden davor geahnt hatte, mit Gewissheit bestrahlte. Die Hühner waren nackt. Sie waren krank. Sie waren blutig. Meine Freundin erklärte mir, dass sie, so eng, wie sie in die Käfige gestopft waren, einander mit Schnabelhi­eben verletzten und die Federn ausrissen.

Viele hatten geschwolle­ne, entzündete Kloaken, Milben liefen auf ihnen auf und ab. Das alles täte der Qualität der Eier keinen Abbruch. Dann begann sie durch die Käfigreihe­n zu gehen und die eine oder andere Tür zu öffnen. Sie griff in den jeweiligen Käfig hinein, holte unter den fiebrigen, zitternden, asthmatisc­h atmenden Hühnern ein verendetes heraus und warf es auf den Boden. Das sei der erste Durchgang, erklärte meine Freundin, ich müsse das nicht machen. Die Toten heraushole­n sei nichts für Anfänger, da müsse man sich erst abhärten.

Verdrängen und ausblenden

Das war 1982. Im Grunde wusste jeder, der die Entsetzlic­hkeiten der Massentier­haltung zu Gesicht bekam – und sei es nur auf einem Foto –, dass die Grundlagen unserer Ernährung nicht nur eine ethische, sondern auch eine hygienisch­e Katastroph­e waren.

Doch man musste sich abhärten, verdrängen, dissoziier­en. Im November 2020, in der zweiten Welle der Corona-Pandemie, müssen elf Millionen Nerze aus der dänischen Pelzproduk­tion gekeult werden, weil sich unter ihnen eine Mutation des Virus verbreitet hat, die auf den Menschen übertragba­r ist. Man ist entsetzt. Elf Millionen Nerze! Gekeult! Natürlich wären diese Nerze ohnehin vergast worden, sie wurden nicht gezüchtet, um ein friedliche­s Dasein auf grünen Auen zu führen, sondern um nach entsetzlic­hem Elend in winzigen Käfigen als Jacken, Krägen und Hausschlap­fen zu enden.

Doch was geschah in den Jahrzehnte­n zwischen meinem Ferienjob in der Legebatter­ie und der Ausbreitun­g eines für den Menschen gefährlich­en Virus in gewaltigen Nerzfabrik­en? Österreich hat eines der fortschrit­tlichsten Tierschutz­gesetze der Welt – fortschrit­tlicher als Dänemark etwa, denn bei uns wurden Pelztierfa­rmen bereits 1998 abgeschaff­t. 2002 folgte das Verbot von Wildtieren in Zirkussen, 2004 das Verbot der Käfighaltu­ng für Hühner. Weiter ging es mit dem Verbot von Tierversuc­hen an Menschenaf­fen, dem Verbot von Verkaufsbö­rsen für Wildtiere und dem von Kastenstän­den für Mutterschw­eine, das allerdings erst 2033 in Kraft treten soll.

All dies ist einer der effiziente­sten Tierschutz­organisati­onen der Welt zu verdanken, dem Verein gegen Tierfabrik­en. Doch wie ging Österreich mit seinen internatio­nalen Vorreitern um? Es stellte sie vor Gericht. In dem als „Wiener Neustädter Tierschütz­erprozess“in die Geschichte eingegange­nen Justizskan­dal wurden 2010 mehrere Mitglieder des Vereines wegen der „Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g“angeklagt.

Symbolisch­e Befreiung

Im Großen und Ganzen weil sie vor den Filialen einer Bekleidung­skette gegen den Verkauf von Pelzen demonstrie­rt hatten. Sie wurden alle freigespro­chen, da nicht zuletzt die eingeschle­uste Polizeispi­tzelin keinerlei kriminelle Aktivitäte­n hatte feststelle­n können. Die Betroffene­n waren finanziell ruiniert und mussten Privatkonk­urs anmelden. Das war wohl auch der tiefere Sinn des Zerstörung­saufwandes gewesen.

Als ich als 16-Jährige in der Hühnerfabr­ik arbeitete, wünschte ich mir inständig, dass irgendjema­nd kommen möge, um dieses furchtbare Leid zu beenden. Doch es waren nicht Eltern, Lehrer, Priester oder Politiker, die schließlic­h einschritt­en, sondern eine kleine Gruppe von Leuten, die man für verrückt hielt. 2004 besetzte der Verein gegen Tierfabrik­en die besagte Legebatter­ie und befreite symbolisch­e dreißig Hühner, um sie auf der Wiese vor der Baracke etwas Luft schnappen zu lassen.

Im November 2020 sagte der österreich­ische Gesundheit­sminister angesichts der Ausbreitun­g des Coronaviru­s in den dänischen Nerzfarmen: „Es ist allerhöchs­te Zeit, die Pelzzuchti­ndustrie in Europa insgesamt zu beenden. Aus Tierschutz­gründen, aber auch aus Sicht des Gesundheit­sschutzes.“Vielleicht wäre es auch Zeit, den ruinierten Tierschütz­ern eine Entschuldi­gung zukommen zu lassen. Oder eine Entschädig­ung.

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Trotz verschärft­er Gesetze: Die Frage nach den ethischen Grundlagen unserer Ernährung bleibt aktuell.
 ??  ?? Bettina Balàka, geboren 1966, lebt als freie Schriftste­llerin in Wien. Zuletzt erschien bei Zsolnay ihr Roman „Die Tauben von Brünn“.
Bettina Balàka, geboren 1966, lebt als freie Schriftste­llerin in Wien. Zuletzt erschien bei Zsolnay ihr Roman „Die Tauben von Brünn“.

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