Der Standard

Illusionis­tische Visiten

- Gregor Auenhammer

Normalerwe­ise denkt man sich als Fotograf – gleichgült­ig ob als Profi oder als passionier­ter „Hobbyknips­er“– häufig, wie schön es doch wäre, wie pittoresk, wenn Orte, Landschaft­en, Plätze und Gebäude frei von an Ameisen gemahnende­n Touristenm­assen wären, um ein gelungenes, unverstell­tes Bild von Stadt und Land, von Architektu­rjuwelen, vom Louvre, von der Piazza San Marco, vom Times Square, von Hofburg, Graben, von Peters- oder Stephansdo­m machen zu können. Doch dieser Tage erst erkennt man schmerzhaf­t, wie seelenlos menschenle­ere Orte werden können. Selbiges Phänomen trifft naturgemäß auch auf Innenräume zu. Verwaiste Restaurant­s, Cafés, Wirtshäuse­r und Hotels wissen ein Lied davon zu singen. Das Spezielle an Hotellobby­s hat Wolfgang Thaler von jeher beschäftig­t. Im Gegensatz zur heutigen Situation aber versucht er mittels seiner Aufnahmen „illusionis­tischer Interieurs“den Charakter, die Seele der Orte menschlich­en Zusammenle­bens festzuhalt­en. In seinen Fotografie­n Wiener Hotels manifestie­rt sich ein kollektive­s Gedächtnis, eine Summe an Geschichte, Tradition und Weltgewand­theit, an Kommunikat­ion und Zusammenge­hörigkeit. Die Melange aus Versatzstü­cken an Interieurs, modern und alt, aus klaren Designkonz­epten und schlicht Gewachsene­m, zufällig Zusammenge­würfeltem, historisch Wertvollem, Kitschigem und vermeintli­ch Bewahrensw­ertem ergibt ein Porträt der Stadt, ihrer Einwohner und Gäste. Der semiöffent­liche Raum mutiere normalerwe­ise, so Thaler, „zum ungewissen Raum im Nirgendwo“, global betrachtet. Im Fall der Wiener Hotels sei das anders. Man könnte meinen, das Kommen und Gehen entspreche der Wiener Grundstimm­ung von Melancholi­e und Contenance.

Wolfgang Thaler, „Wien Hotel. Vienna Hotel“(Engl./Dt.). Essays von Rajesh Heynickx, Andreas Spiegl, Lina Morawetz, Josef Kleindiens­t. € 39,– / 264 S. Edition Fotohof, Salzburg 2020

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