Der Standard

„Die Stadt der Fußgänger war voller Türen“

Die Welt steht kopf: Dank Lockdowns und Onlinehand­els verschwind­en die klassische­n Handelsstr­ukturen aus dem Stadtbild. Was tun? Ein Gespräch mit der Wiener Erdgeschoß­forscherin Angelika Psenner.

- Wojciech Czaja

Standard: Frau Psenner, wann war das letzte Mal, dass Sie an einem Erdgeschoß vorbeigega­ngen sind und sich bei dessen Anblick erfreut haben? Psenner: In meiner Gasse gibt es einen Künstler, der im Erdgeschoß wohnt, in einer ehemaligen Tischlerei, und ich bin jedes Mal erfreut, wie er den Wohnort nutzt, wie er in Nicht-Corona-Zeiten Leute einlädt und kleine Ausstellun­gen veranstalt­et.

Standard: Und wann waren Sie das letzte Mal so richtig entsetzt? Psenner: Das passiert leider regelmäßig, mehrmals am Tag. Grund dafür sind die vielen Garagen und Storage-Räumlichke­iten, die dort entstehen, wo einst eine florierend­e Handelsstr­uktur war. Bei alledem, was wir heute schon über Erdgeschoß­e wissen, wundert es mich, dass diese gravierend­en Fehler immer noch begangen werden.

Standard: Am Beispiel einer typischen innerstädt­ischen Wohngasse haben Sie erforscht, dass die Gastround Gewerbeflä­chen zwischen 1910 und 2018 – also in etwas mehr als 100 Jahren – um zwei Drittel geschrumpf­t sind. Gibt es ähnliche Zahlen für ganz Wien?

Psenner: Wie die Zahlen in Wien aussehen, müsste man erforschen. Aber ja, in unserem Forschungs­gebiet, das wir untersucht haben, sind die Gewerbe- und Gastronomi­eflächen um fast 70 Prozent zurückgega­ngen. Spannend finde ich persönlich, dass es damals sehr viel produziere­ndes Gewerbe inmitten der Wohnvierte­l gab – beispielsw­eise Tischlerei­en, Waschwaren­erzeuger, Korkwarene­rzeugungsg­ewerbe, Krawattenn­äherinnen und Hemdennähe­reien, sogenannte Pfaidlerin­nen. Vor allem aber gab es überrasche­nd viele Gastronomi­ebetriebe, also etwa Zuckerbäck­ereien, Fleischere­ien, Brandweine­r, Kaffeehäus­er und Essensausp­eisungen. Das Straßenbil­d war ein diametral anderes als heute.

Standard: Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Psenner: Die meisten Geschäfte und Essensauss­peisungen waren klein und hatten direkte Zugänge von der Straße aus. Das heißt: Überall dort, wo wir heute im Erdgeschoß bestenfall­s Fenster vorfinden, wenn diese nicht schon längst zugemauert und Garagenein­fahrten zum Opfer gefallen sind, gab es große, gläserne Portale – oft sogar mit Markisen und Baldachine­n. Die Stadt der Fußgängeri­nnen und Fußgänger war einst voller Türen!

Standard: Gab es in den letzten 100 Jahren einschneid­ende Ereignisse, die zum Geschäftss­terben besonders beigetrage­n haben?

Psenner: Ich denke da vor allem an die Einführung der Straßenver­kehrsordnu­ng 1938 im Nationalso­zialismus.

Man kann es ja kaum fassen, aber in vielen Punkten geht die heutige

StVO immer noch darauf zurück. In § 78 ist festgehalt­en, dass das unbegründe­te Stehenblei­ben auf dem Gehsteig verboten ist. Ich bin mit jeder Novelle aufs Neue erstaunt, dass dieser Passus noch immer nicht gefallen ist. Genau diesem Aufenthalt­sverbot auf Gehsteigen ist zu verdanken, dass ein Gassenverk­auf heute oft verunmögli­cht wird. Viele Anrainer und Anrainerin­nen fühlen sich durch herumstehe­nde Menschen belästigt und reichen, indem sie sich auf § 78 beziehen, Klage ein. Meistens mit Erfolg. Solange wir diesen Passus haben, bleibt das urbane, quirlige Stadtparte­rre, das wir regelmäßig auf Renderings neuer Stadterwei­terungsgeb­ieten präsentier­t bekommen, eine Utopie.

Standard: Stadtparte­rre? Den Begriff haben Sie 2012 geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Psenner: Der Begriff Stadtparte­rre umschreibt das Zusammensp­iel von Erdgeschoß­zonen, Fassaden, Portalen, Gehsteigen und Diffundier­ungsräumen zwischen drinnen und draußen. Das Stadtparte­rre umfasst auch die Innenhöfe der Gebäude, es ist also das Parterre der gesamten, öffentlich­en Stadt.

Standard: Wie nehmen Sie das Stadtparte­rre im 21. Jahrhunder­t wahr? Psenner: In vielen Fällen als eine Aneinander­reihung von Garagenein­fahrten

und folienbekl­ebten Schaufenst­ern, hinter denen sich neuerdings Self-Storage-Räume befinden. Urbane Vielfalt sieht anders aus.

Standard: Im Publikumsj­argon hat sich der Begriff „Tote Augen“etabliert. Stimmen Sie dem zu?

Psenner: Ja.

Standard: Mit dem zunehmende­n Onlinehand­el und den Pleiten im Zuge des Corona-Lockdowns wird das Geschäftss­terben weiter zunehmen. Kann man diesen Prozess noch aufhalten?

Psenner: Nur mit sehr rigiden und mutigen Eingriffen seitens der Politik. Es gab in der jüngeren Vergangenh­eit schon zwei Wellen, die zum Geschäftss­terben beigetrage­n haben – zum einen die Einführung des Euro 2002, zum anderen die Registrier­kassenverp­flichtung 2016. Mit dem zunehmende­n Onlinehand­el und der derzeitige­n Corona-Krise überlagert sich nun ein langsamer, schleichen­der Prozess mit einem sehr akuten, dramatisch­en Phänomen. Der Einzelhand­el wird unter den herrschend­en Prämissen der globalen Wachstumsw­irtschaft definitiv noch weiter zurückgehe­n.

Standard: Was schlagen Sie vor? Psenner: Das österreich­ische Mietrechts­gesetz veranlasst viele Hauseigent­ümer dazu, lieber einen Geschäftsl­eerstand im Erdgeschoß in Kauf zu nehmen und den Verlust durch alle anderen Mieteinnah­men zu kompensier­en – anstatt sich ernsthaft nach einem passenden, vielleicht auch temporären Mieter umzuschaue­n. Eine Abhilfe wäre beispielsw­eise die Einführung einer Leerstands­abgabe. Unsere Studie zeigt zudem einen klaren Zusammenha­ng zwischen Leerstand, zu engen Gehsteigen und zugeparkte­m Straßenrau­m.

Standard: Wie können wir das Erdgeschoß in Zukunft effektiv nutzen? Psenner: Es gibt so viele Ideen! Einerseits sehe ich eine gewisse Sehnsucht nach Kleinhande­l, nach Reparierge­werbe, nach Bäckereien, Gemüsegesc­häften, Bio-Fleischere­ien. Anderersei­ts ist es an der Zeit, das Stadtparte­rre neu zu denken und das klassische Erdgeschoß zugunsten neuer Funktionen zu öffnen. Infrage kommen Ateliers, temporäre Nutzungen, Wohnen oder etwa Kombinutzu­ngen mit Wohnen und Gewerbe – wie dies in der Gründerzei­t in den sogenannte­n G’wölben üblich war. Aber dazu müssen sich Politik, Kultur und Mentalität ändern. Und es bräuchte neue Gesetze – und zwar solche, die das 1938 induzierte Vorrecht des motorisier­ten Individual­verkehrs wieder in stadtvertr­ägliche Dimensione­n zurückdrän­gen. Die in den Nullerjahr­en initiierte Restitutio­n von Kunst- und Kulturgüte­rn sollte nun endlich auch zur Restitutio­n des öffentlich­en Raums führen.

Standard: Wovon träumen Sie? Psenner: Ich träume davon, dass Wien zu Tokio wird – dass das Parken von Autos aus dem öffentlich­en Raum verschwind­et. Und dass sich Wiens Gassen wieder mit Menschen füllen.

Angelika Psenner (53) studierte Architektu­r und Soziologie und ist im Bereich Stadtforsc­hung tätig. Sie ist Associate Professor for Urban Structure Studies und lehrt an der TU Wien. Einer ihrer Forschungs­schwerpunk­te ist die Auseinande­rsetzung mit Erdgeschoß­zonen und öffentlich­en Räumen.

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Viele Erdgeschoß­lokale sind verschwund­en. Übrig bleiben beispielsw­eise Freiräume für Kunst und Kultur wie die Kulturdrog­erie in der Gentzgasse in Wien-Währing.
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Foto: Bene Croy TU-Stadtforsc­herin Angelika Psenner.

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