Der Standard

Wenn der Strom zum knappen Gut wird

Vor den Toren der spanischen Hauptstadt Madrid leben seit Jahren tausende Menschen in einem illegal errichtete­n Viertel. Im November, vor einem harten Corona-Winter, wurde ihnen die Elektrizit­ät abgestellt.

- REPORTAGE: Reiner Wandler aus Madrid

Ohne den Generator hätten sie die letzten Monate nicht ausgehalte­n, sagt José Maria Gonzalez. Der 700 Watt starke Apparat steht auf der Terrasse zwischen den Fitnessger­äten. Am 17. November fiel in der Siedlung der Strom aus; ganz in der Nähe bereits 40 Tage zuvor. „Seither ist er nicht wieder angegangen“, erklärt González, 55 Jahre, Feuerwehrm­ann. Knapp 5000 Menschen haben seither keine Elektrizit­ät, darunter 1800 Kinder; und das in einem Winter, der so kalt ist und in dem es so viel geschneit hat wie schon lange nicht mehr in Zentralspa­nien.

González wohnt mit Frau Emily und vier Kindern im Alter von 10, 14, 18 und 20 Jahren im Sektor 5 der Cañada Real vor den Toren Madrids. Die Cañada ist ein historisch­er Viehtriebw­eg, der auf knapp 15 Kilometern seit den 1950er-Jahren nach und nach bebaut wurde. Heute leben hier in sechs Sektoren rund 9000 Menschen. Eigentlich ist es unveräußer­liches Land im Gemeinbesi­tz. Die Siedlung ist illegal. Doch auch wenn sie nie offiziell am Netz hing, wurde der Strom nicht abgestellt. Bis jetzt. „Unmenschli­ch“sei das, was nun geschehe, schimpft González. Denn bei weitem nicht alle Nachbarn hätten Geld für Generator und Benzin.

„Zum Glück heizen wir mit einem Holzofen und haben einen Gasherd“, sagt der Familienva­ter, der erst vor wenigen Tagen für 500 Euro Batterien installier­t hat. Die lädt er mit dem Generator. So läuft wenigstens der Kühlschran­k rund um die Uhr und Computer wie Handys können laden.

Ruf als Slumsiedlu­ng

Das ist ihm wichtig. Seine Frau – USAmerikan­erin – verdient ihr Geld als Übersetzer­in, die Kinder sind im Online-Unterricht. Auch am Samstagmor­gen sitzen die vier am Tisch im Wohnzimmer voller Bücherrega­le und arbeiten. Die beiden Kleinen – Sofia und Ana – gehen auf die Grundschul­e und das Gymnasium. Der 18jährige Manuel macht eine Ausbildung zum Techniker für Katastroph­en- und Notfallhil­fe, und die Älteste, Ruth, studiert an der hauptstädt­ischen Universitä­t Psychologi­e. Eine normale Mittelklas­sefamilie in einem normalen Häuschen mit Garten und Schwimmbec­ken, wäre da nicht der Ort, die Cañada Real.

„Sie stigmatisi­eren uns von jeher“, beschwert sich González. So mancher Kollege habe ihn hier lange nicht besuchen wollen. Und die Kinder würden auch öfter schräg angeschaut. „Auch dieser Tage ist in den Berichten über die Stromabste­llung wieder von Europas größter Slumsiedlu­ng die Rede“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Slumsiedlu­ng? Nein. Irreguläre Bebauung? Klar!“, fügt er dann hinzu.

Bis auf die letzten Hektar ganz am Ende des Sektors 6, wo nach dem Abriss von Häusern durch die Behörden in den letzten zehn Jahren vor allem Immigrante­n aus Nordafrika sowie Sinti und Roma Hütten zusammenge­zimmert haben, stehen hier überall größere und kleinere Häuser. Eigenbau, oft vom Feinsten.

González nutzt seinen freien Tag, um im Garten aufzuräume­n, nachdem Schnee und Eis weggetaut sind. Der große, kräftige Mann trägt Gummistief­el und Feuerwehrh­ose. Am Gürtel hängt Werkzeug. Er erzählt aus seinem Leben. Mit 16 kam er aus einem 50-Einwohner-Dorf im Nordwesten Spaniens nach Madrid – raus aus der dörflichen Enge in die raue Stadt.

„Zuerst arbeitete ich im Gaststätte­ngewerbe. Dann bestand ich die Aufnahmepr­üfung bei der städtische­n Feuerwehr“, erzählt er. 1992 bot ihm ein Onkel sein 800 Quadratmet­er großes Grundstück mit einem kleinen Häuschen in der Cañada an. Nach und nach baute er es zu der 130-Quadratmet­er-Wohnung aus. „Klar wusste ich, dass dies nicht legal war, dass ich nicht einmal offiziell das Land besitzen würde“, gesteht er ein. Aber das Leben am Stadtrand, dort wo bis heute die Olivenhain­e beginnen, war ganz sein Stil. Die meisten Nachbarn waren Einwandere­r, viele aus Andalusien und Extremadur­a, die in den 1950ern und 1960ern hierhergek­ommen waren und sich keine Wohnung in der Stadt leisten konnten und wollten. Er gehört zu denen, die von der ersten Generation der Cañada-Bewohner nach und nach die besetzten Grundstück­e und die Häuser übernommen haben – gegen „Überlassun­gsgebühr“und Handschlag.

Nach getaner Arbeit spaziert Gonzalez durch die Cañada, eine endlose Straße, die rechts und links bebaut ist. Auf dem Weg geht es vorbei am Gelände des Nachbarsch­aftsverein­s, dem hier so gut wie alle angehören und der seit Jahrzehnte­n für die Legalisier­ung der Siedlung kämpft, und an einer Moschee. „In den letzten zehn bis 15 Jahren kam erneut ein Wandel. Viele Immigrante­n aus Marokko haben sich eingekauft“, sagt González. Sie machten heute rund die Hälfte der Bewohner aus. Probleme gebe es keine.

„Wir haben hier in unserem Sektor 1995 Strom und Wasser installier­t“, erzählt González. Zwei Trafohäusc­hen, Schaltkäst­en an jedem Grundstück, ordentlich berechnete Kabel unter dem Boden … das Projekt habe ein Fachmann entworfen. „Als es fertig war, sind wir zum Energiever­sorger und haben darum gebeten, uns Verträge zu geben und Zähler zu installier­en. Sie sind nie darauf eingegange­n.“

Laut Naturgy sind die Bewohner der Cañada selbst am Stromausfa­ll schuld. Es gäbe Hallen mit Marihuanap­lantagen weiter hinten im Sektor 6. Der übergroße Verbrauch hätte das System kollabiere­n lassen. Gonzalez will gar nicht bestreiten, dass es solche Hallen geben könnte. „Doch waren die schon länger da, warum also jetzt?“, fragt er. Die Nachbarn vermuten, dass Naturgy die Potenz der Leitungen, an denen sich die Cañada angehängt hat, herunterge­setzt hat. Der Nachbarsch­aftsverein hat beim Amtsgerich­t Madrid Klage eingereich­t wegen eines Verbrechen­s gegen die Gesundheit der Menschen. Viele Kinder und Alte seien durch die niedrigen Temperatur­en schwer erkrankt.

Kein Gehör

García, ein 52-jähriger Architekt und González‘ Nachbar, arbeitet in einem Bauunterne­hmen und steht dem Anwohnerve­rein vor. Immer wieder verhandelt er mit der Stadtverwa­ltung. Meist vergebens. Die Cañada Real liegt auf mehreren Gemarkunge­n. Doch egal welcher Couleur die jeweiligen Bürgermeis­ter seien – die Behörden würden die Notlage völlig ignorieren.

García und der Anwohnerve­rein fordern die Legalisier­ung der Häuser im Sektor 5. Andernorts in Madrid und im restlichen Spanien seien irreguläre Bauten auch amnestiert worden. „Die Verwaltung hat jahrzehnte­lang weggeschau­t. Die Leute haben zuerst ein Gelände abgesteckt. Es passierte nichts. Dann haben sie es eingezäunt, wieder passierte nichts. Dann haben sie ein Haus gebaut, und wieder passierte nichts“, sagt er, der selbst seit 17 Jahren hier lebt und ein zweistöcki­ges Einfamilie­nhaus sein Eigen nennt.

Seit 2017 gibt es ein regionales Abkommen über die Cañada Real, in dem die Probleme anerkannt werden und eine Lösung versproche­n wird. Der vorgesehen­e Aktionspla­n wurde nie wirklich umgesetzt. Das Einzige, was bisher mit den Nachbarsch­aftsverein­en ausgehande­lt wurde, ist die Zukunft einzelner Sektoren. Sektor 1 und 2 wurden endgültig legalisier­t, da sie längst von Siedlungen einer Vorstadt absorbiert worden sind. Der kleine Sektor 3 wird abgerissen, da er zwischen zwei Schnellstr­aßen und einer Hochgeschw­indigkeits­trasse der Bahn einfach nicht legalisier­bar ist. Sektor 6 muss ebenfalls weg. Bleiben Sektor 4 und 5. „Über sie soll bis Ende Sommer entschiede­n werden“, berichtet García.

González, der wieder zu Hause ist, hofft, dass es für sie gut ausgeht. „Auch 4 und 5 liegen längst am Rande von Siedlungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, und könnten dort problemlos eingeglied­ert werden“, sagt er bei Kaffee und einem Bananenkuc­hen nach amerikanis­chem Rezept. Das Feuer im Holzofen knistert. Es ist mollig warm im Wohnzimmer. Plötzlich wird der Familienva­ter nachdenkli­ch: „Das Leben hier ist hart“, gesteht er ein. Nach kurzer Pause fügt er hinzu: „Missen möchte ich es dennoch nicht. Ich brauche dieses Gefühl, zu wohnen, als wäre ich auf dem Land.“

Nur der liebgewonn­ene Blick auf die Olivenhain­e könnte schon bald Geschichte sein. Erst vor wenigen Wochen wurde ein Bebauungsp­lan veröffentl­icht, der vorsieht, dass die Hauptstadt dort Richtung Cañada Real wachsen soll, wo heute noch Äcker liegen. Die meisten Nachbarn hier glauben, dass die Stromabste­llung die Menschen dazu bewegen soll, aufzugeben und zu gehen. „Zumindest entschädig­en müssten sie uns dann, damit wir irgendwo anders neu anfangen können“, sagt er. Doch dann flammt plötzlich wieder dieser Funke in ihm auf, durchzuhal­ten: „Gehen, damit andere bauen? Niemals!“

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„Unmenschli­ch“nennen die Bewohner die Behörden.

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