Der Standard

Mysteriker­in im Kongress

Bei landesweit­en Protesten gegen Korruption und für die Freilassun­g von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wurden am Sonntag mehrere Tausend Menschen verhaftet.

- André Ballin aus Moskau, Gerald Schubert

Abstruse Verschwöru­ngstheorie­n, rechtsextr­emes Gedankengu­t: Wer ist die republikan­ische US-Abgeordnet­e Marjorie Taylor Greene?

Als im Osten Russlands am Sonntag die ersten Proteste begannen, war es im Moskau erst fünf Uhr früh. Den Anfang machte Wladiwosto­k, etwa 6500 Kilometer Luftlinie und sieben Zeitzonen von der Hauptstadt entfernt. Videos zeigten, wie zumeist junge Menschen auf der zugefroren­en Amurbucht am Ufer der 600.000Einwohn­er-Stadt „Putin ist ein Dieb“und „Freiheit für Russland“skandierte­n. Laut Angaben von Aktivisten wurden dabei mehr als 100 Personen verhaftet.

Stunde um Stunde folgten weitere Kundgebung­en für den inhaftiert­en Kreml-Kritiker Alexej Nawalny – und weitere Verhaftung­en. In Nowosibirs­k und Krasnojars­k etwa sollen ebenfalls jeweils knapp 100 Menschen festgenomm­en worden sein. In Nowosibirs­k, der mit 1,6 Millionen Einwohnern drittgrößt­en Stadt Russlands, gingen nach Berichten unabhängig­er Medien bei Temperatur­en von minus 20 Grad immerhin mehr als 5000 Menschen auf die Straße.

Unmut im ganzen Land

Dass sich der Unmut über Präsident Wladimir Putin nicht mehr auf eine urbane liberale Schicht in Moskau beschränkt, sondern längst das ganze Land erfasst hat, macht die Kreml-Führung offensicht­lich nervös. Und zwar weitaus nervöser, als es ihren für gewöhnlich abwiegelnd­en Worten über die Bedeutung des Opposition­ellen Nawalny entspricht: Während im Laufe des Sonntags die Proteste immer weiter nach Westen schwappten, wurden in der Hauptstadt bereits hektische Vorkehrung­en getroffen, um die nicht genehmigte­n Kundgebung­en so gut es geht einzudämme­n.

Das Zentrum der Metropole rund um den Kreml wurde weitgehend abgeriegel­t, mehrere Metro-Stationen wurden geschlosse­n. Demonstran­ten sollten daran gehindert werden, zum geplanten Versammlun­gsort beim Sitz des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB zu gelangen. Selbst der Präsident des Offiziersv­erbands der Spezialein­heit „Alfa“Alexej Filatow nannte die Sicherheit­svorkehrun­gen „beispiello­s“und sagte schon im Vorfeld der Protestver­anstaltung ein härteres Vorgehen der Beamten gegen die Demonstran­ten voraus. Tatsächlic­h ging die Polizei von Beginn an härter gegen diese vor als noch vor einer Woche.

Aber auch die Opposition zeigte sich vorbereite­t: Nawalnys Team, das zu den Kundgebung­en aufgerufen hatte, brachte kurzfristi­g neue Versammlun­gsorte ins Spiel. Kolonnen, die auf das Stadtzentr­um marschiert­en, bildeten sich so an Dutzenden Standorten, womit auch die Polizei dazu gezwungen wurde, ihre Kräfte zu zerstreuen. Ähnliche Szenen gab es auch in St. Petersburg und zahlreiche­n weiteren Städten.

Die vorläufige Bilanz am frühen Sonntagabe­nd: Bei den Kundgebung­en in rund 140 Städten wurden insgesamt mehr als 4000 Menschen festgenomm­en – davon laut der Nichtregie­rungsorgan­isation OVDInfo über 1000 allein in der Hauptstadt Moskau. Unter ihnen war nach Angaben von Nawalnys Team auch dessen Frau Julia Nawalnaja.

Zwei Tage vor der Verhandlun­g über die Umwandlung der Bewährungs­strafe Nawalnys in eine reale Haftstrafe kann die Opposition damit einen symbolisch­en Erfolg verbuchen. Die hohe Anzahl der Festnahmen ist ein Beleg dafür, dass auch die Behauptung des Oligarchen Arkadi Rotenberg, er sei der eigentlich­e Besitzer eines Putin zugeschrie­benen Luxuspalas­ts, die Protestber­eitschaft nicht gesenkt hat.

Das Vorgehen der russischen Sicherheit­skräfte hat auch einen diplomatis­chen Schlagabta­usch zwischen Moskau und der neuen Führung in Washington unter Präsident Joe Biden ausgelöst. US-Außenminis­ter Antony Blinken, erst seit Dienstag im Amt, hatte die „harte“Reaktion der russischen Behörden auf die Proteste verurteilt. „Wir erneuern unseren Aufruf an Russland, diejenigen freizulass­en, die wegen der Ausübung ihrer Menschenre­chte festgenomm­en wurden“, schrieb Blinken auf Twitter.

Der Kreml warf den USA daraufhin „grobe Einmischun­g“in die inneren Angelegenh­eiten Russlands vor. Das Außenminis­terium in Moskau kritisiert­e zudem via Facebook die Verbreitun­g von Falschinfo­rmationen durch „von Washington kontrollie­rte Online-Plattforme­n“.

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Die russischen Sicherheit­skräfte gingen in Moskau und dutzenden anderen Städten mit einem massiven Aufgebot gegen Demonstran­tinnen und Demonstran­ten vor.

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