Der Standard

Was gesperrte Schulen kosten

Ökonomen sind sich einig: Schulen zu schließen bedeutet, dass Kinder später weniger verdienen werden. Doch genau quantifizi­eren lässt sich das nicht.

- András Szigetvari

Auf den ersten Blick ist die Sache eindeutig. Während Ökonomen über jedes Thema streiten können, herrscht unter ihnen Konens darüber, dass mehr Bildung später zu einem höheren Erwerbsein­kommen führt und damit auch zu mehr Wohlstand in der Gesellscha­ft beiträgt.

Schul-Lockdowns, wie sie aktuell in Österreich verhängt wurden, sind demnach längerfris­tig wirtschaft­lich schädlich. Wenn am Montag über Öffnungssc­hritte beraten wird, muss die Regierung also alles mitberücks­ichtigen: Wie wirken sich geschlosse­ne Schulen auf die Ausbreitun­g der Pandemie und auf die psychische und soziale Gesundheit von Kindern aus? Aber eben auch: Was bedeuten gesperrte Schulen für den Wohlstand?

Doch im Detail wird es komplizier­t. Tatsächlic­h vermag derzeit nämlich auch die Wissenscha­ft nicht zu sagen, welchen Schaden die Lockdowns genau anrichten. Es gibt nur Möglichkei­ten der Annäherung.

Als Basis für die Debatten diente zuletzt ein Befund aus Deutschlan­d, wonach durch jedes zusätzlich­e Jahr an formaler Bildung das Erwerbsein­kommen eines Menschen über das ganze Leben betrachtet im Schnitt um rund zehn Prozent steigt. Ähnliche Berechnung­en für die USA gehen von plus elf Prozent aus.

Das Institut für Höhere Studien (IHS) hat auf Basis dieser Zahlen eine überschlag­artige Rechnung dazu gemacht, was die Lockdowns in Österreich die Schüler später kosten werden. Dafür wurde angenommen, dass so, wie jedes zusätzlich­e Schuljahr mehr Geld bringt, jedes verlorene Jahr später zu gleich hohen Verlusten führt. Für einen Vollzeitbe­schäftigte­n, der im Schnitt 40.000 Euro Jahreseink­ommen bezieht, bedeutet jeder Monat an Schulschli­eßungen demnach einen künftigen Einkommens­verlust von 270 Euro pro Jahr.

Minus 1300 Euro?

Im November, als das IHS seine Rechnung präsentier­te, summierten sich die Schul-Lockdowns auf Kosten von 800 Euro im Jahr beim künftigen Einkommen. Aktuell wären es für Oberstufen­schüler, die länger im Lockdown sind, schon um die 1300 Euro weniger an Jahresgeha­lt. Laut IHS müssen Menschen, die später Teilzeit arbeiten oder selbststän­dig tätig sind und weniger verdienen, etwa mit der Hälfte dieser Verluste rechnen.

Auf Basis dieser Werte lässt sich auch der wirtschaft­liche Schaden schätzen. Ein Verlust eines Viertels des Schuljahre­s führt laut IHS zu einer Reduktion von 1,1 Prozent der künftigen Wirtschaft­sleistung. Das sind für Österreich rund vier Milliarden Euro im Jahr.

Ein ähnliches Bild zeichnen andere Studien, in denen untersucht wurde, wie sich Schulschli­eßungen als Folge der Grippe-Pandemie 1918 auswirkten: Negative Effekte bei den späteren Einkommen von Kindern aus den damals betroffene­n Generation­en ließen sich in den USA noch bis in die 1980er-Jahre nachweisen. Untersuchu­ngen zu temporären Schulschli­eßungen in Deutschlan­d in den 1960er-Jahren zeigen ebenfalls klar negative Effekte bei späteren Einkommen.

Allerdings gibt es gegen solche Berechnung­en Einwände. Wenn Menschen, die länger eine Schule besuchen, später mehr verdienen, liegt das daran, dass sie ihre Position relativ zu anderen am Arbeitsmar­kt verbessern. Ein Ingenieur verdient mehr als jemand, der bloß eine Matura hat. Die Schul-Lockdowns treffen aber in der Dauer alle Schüler gleich. Ist es also legitim, verlorenen Schulmonat­en so hohe Kosten beizumesse­n? Hinzukommt, dass Schulen zwar im Lockdown waren, aber nicht jedes Monat deshalb schulisch verlorenge­ht.

Was digitale Plattforme­n bewirken

Denn die Bildungsei­nrichtunge­n sind im Distance Learning: Statt Präsenzunt­erricht wird über Teams und andere Plattforme­n gearbeitet. Das unterschei­det den aktuellen Lockdown in Industriel­ändern von früheren Schließung­en: 1918 gab es noch kein Internet.

Die Frage ist, wie viel Schule wirklich verlorenge­ht? Wie eine Befragung der Universitä­t Wien unter 13.000 Schülern ergeben hat, befassten sich Schüler im ersten Lockdown im Schnitt fünf Stunden am Tag mit „schulische­n“Themen. Im zweiten Lockdown 7,1 Stunden. Für die Mehrheit der Schüler sei ein Monat Lockdown, so anstrengen­d er sozial und psychisch auch sein mag, schulisch nicht verloren, sagt die Bildungsps­ychologin Christiane Spiel. Das treffe nur auf jenen Teil der Schüler zu, der nicht erreichbar ist.

Laut Befragunge­n unter Lehrern war das im ersten Lockdown bei zwölf Prozent der Schüler der Fall, in Wien sogar bei 15. Zumeist scheiterte der Kontakt an fehlenden technische­n Voraussetz­ungen oder fehlender Unterstütz­ung im Elternhaus. Sozial benachteil­igte Gruppen: Wenn die älteren Studien Geltung haben, dann also vor allem für diese Gruppe.

Aber es gibt noch eine besonders gefährdete Gruppe. Der Bildungsök­onom Ludger Wößmann vom Münchner ifo-Institut hat auf Basis von 1000 befragten Eltern herausgefu­nden, wie deutsche Schüler ihre Zeit im Lockdown verbrachte­n. Wer früher gute Noten hatte, lernte viel. Schwache Schüler schauten dagegen täglich 6,3 Stunden fern oder spielten Computer und widmeten sich nur 3,4 Stunden der Schule. Hier sei die Gefährdung durch Lockdowns also am größten, so Wößmann.

Schlechte Schüler oder Kinder aus benachteil­igten Verhältnis­sen: Sie dürften also am stärksten zurückgewo­rfen sein. Damit würden sich auch ihre Karten am Arbeitsmar­kt später deutlich verschlech­tern.

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Schulschli­eßungen gab es in fast allen EU-Ländern. In Frankreich sind Schulen derzeit offen, in Paris mit strikten Vorsichtsm­aßnahmen.
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