Der Standard

„Ich will, dass das aufhört“

Wochenlang im Lockdown, Schule nur sporadisch, Erlebnisse mit Gleichaltr­igen vorwiegend online: Corona setzt den Jungen auch psychisch zu. Der Experte sagt, es brauche Stabilität und Kreativitä­t im Umgang mit der Pandemie.

- Karin Riss

Es sei nur schwer auszuhalte­n. Die Tochter weine den halben Tag in ihrem Zimmer, fühle sich schulisch überforder­t, sei gleichzeit­ig antriebslo­s und leer, berichtet ein besorgter Vater.

Die Jugendlich­en im Bekanntenk­reis, das eigene Kind mit eingeschlo­ssen, hätten keinen geregelten Tagesablau­f mehr, der Übergang von Tag und Nacht sei nur noch schwimmend – entspreche­nd schwer falle das Aufstehen in der Früh, schreibt eine beunruhigt­e Mutter. Serienmara­thons, ständiges Social-Media-Scannen und Computersp­iele würden das Ihre beitragen zu verstärkte­r Gereizthei­t, Rückzug und dem schwindend­en Interesse an sozialen Kontakten.

Mediziner berichten von jungen Menschen mit Essstörung­en, Ängsten, depressive­n Symptomen bis hin zu handfesten Depression­en. Das beginne oft schon früh, mit zwölf Jahren aufwärts. Auch würden derzeit verstärkt Familien Hilfe suchen, die normalerwe­ise nicht zur Hauptrisik­ogruppe zählten.

Laut einer aktuellen Studie des Department­s für Psychother­apie und Biopsychos­oziale Gesundheit an der Uni Krems in Zusammenar­beit mit dem Bundesverb­and für Psychother­apie leidet aktuell bereits mehr als die Hälfte der jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren unter depressive­n Symptomen. Der Leiter der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Wiener Allgemeine­n Krankenhau­s (AKH) warnte vor kurzem öffentlich, dass vermehrt Jugendlich­e mit schweren Symptomen an die Abteilung kämen. Man sei überlastet.

Kerngesund, verzweifel­t

Frau X wähnte sich bis vor kurzem als Mutter eines „kerngesund­en Sechsjähri­gen, Einzelkind“, schreibt sie. Bis sie vor wenigen Wochen den psychosozi­alen Notdienst rufen musste, weil sich das, was sie bisher als „Spinnereie­n“während einer schwierige­n Phase abgetan hatte, plötzlich zu richtigen Ticks und Zwangshand­lungen entwickelt­e. „Die Hände müsse man ihm ständig von allen Seiten fotografie­ren, bevor er wieder etwas angreifen kann, alterniere­nd mit Händewasch­en“, schildert Frau X, die dem STANDARD mit vollem Namen bekannt ist, auf Nachfrage am Telefon. „Dazwischen Schrei- und Brüllattac­ken, wenn ein Foto nicht ganz so gelungen ist, wie es der junge Mann will.“Irgendwann wollte der Bub nichts mehr essen und trinken, „weil er irgendwie Angst hat, etwas könnte die Lippen berühren“, erzählt die Mutter. Seine verzweifel­te Bitte: „Ich will, dass das aufhört!“Ihre verzweifel­te Hoffnung: „dass es hoffentlic­h nur temporäre Zwänge sind“, die sie nur teilweise auf eine gewisse familiäre Veranlagun­g zurückführ­t. „Hinzukommt die Unterforde­rung, der ständige Medienkons­um, der Corona-Frust“, sagt Frau X, die von sich selbst behauptet, nicht übermäßig ängstlich im Umgang mit der Pandemie zu sein.

Psychiater Patrick Frottier vom Psychosozi­alen Dienst der Stadt Wien nennt drei gängige Verhaltens­weisen, mit denen Menschen auf soziale Stressfakt­oren reagieren: Die einen erstarren, womöglich bis hin zum kompletten Rückzug oder depressive­n Symptomen. Die anderen fliehen – was angesichts von Ausgangsbe­schränkung­en und Co meist eine Flucht in Ersatzhand­lungen ist. Als Alternativ­e bleibt die Strategie des Angriffs, „sei es, indem wir mithilfe der Wissenscha­ft versuchen, einen Impfstoff gegen das Virus zu finden, oder indem Menschen wegen ihrer Ablehnung der Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen“, erklärt Frottier.

Vertrauen schaffen

Wenn es um Kinder und Jugendlich­e geht, hätten Eltern mit ihrer Reaktion auf die Situation eine erhebliche Vorbildwir­kung, sagt der Psychiater: „Wir müssen Vertrauen schaffen!“Ängste nehmen. Statt von einer „verlorenen Generation“zu sprechen, hervorstre­ichen, was alles gerade an neuen Herausford­erungen gemeistert wird. Solidaritä­t und Zusammenha­lt vorleben, statt andere Meinungen zu diskrediti­eren. Frottier: „Eine Traumastör­ung entsteht nicht nur durch ein Trauma alleine, sondern auch durch die Reaktionen darauf.“Das gelte übrigens auch für die politische Kommunikat­ion. Hier sei es wichtig, „keine Pläne anzukündig­en, die ich nicht einhalten kann“. Dieses „NichtEnde“der Pandemie führe sonst zu einem Glaubwürdi­gkeitsprob­lem, und „Kinder sind diesbezügl­ich sehr sensibel“, weiß der Experte. Die Gefahr dabei: Das sei der Moment der „Verschwöru­ngserzähle­r“, denn „die lassen mit ihren ungeheuer einfachen Botschafte­n keine Zweifel offen“.

Kreativer Unterricht

Mit den jungen Patientinn­en und Patienten des vom ihm geleiteten kinderund jugendpsyc­hiatrische­n Ambulatori­ums in Wien Hietzing arbeite er daran, möglichst viel Rhythmus und viele Rituale im Alltag zu etablieren. Er bemerke auch, dass jene Kinder, die Schulen mit regelmäßig­em Unterricht besuchen – derzeit etwa eine Sonderschu­le –, „wesentlich stabiler“mit der angespannt­en Situation umgehen können. Heißt für den Distance-Learning-Alltag in anderen Schulforme­n: lieber weniger anbieten, das aber gesichert und geplant. Lieber regelmäßig die Schülerinn­en und Schüler anrufen, als alle zusammen stundenlan­g per Videoforma­t zu unterricht­en. Frottier findet: „Wir haben eine außergewöh­nlich unbekannte Situation, die verlangt nach einem kreativen Umgang und nicht nach Festhalten am ewig Gleichen.“

Frau X sagt, ihrem Sechsjähri­gen gehe es im Kindergart­en meist etwas besser. Außerdem hat sich die Familie Hilfe gesucht – zunächst auf der psychiatri­schen Kinderambu­lanz im AKH, dort haben die Ärzte den Kontakt zu einer niedergela­ssenen Psychologi­n organisier­t. Zwar muss privat bezahlt werden, aber immerhin war ein wöchentlic­her Fixtermin zu haben. Die eigenen Erfahrunge­n mit der anhaltende­n Lockdown-Situation machen Frau X nachdenkli­ch. Sie findet: „Wir schützen die eine vulnerable Gruppe auf Kosten der anderen. Unser Kind ist kein Einzelfall, alle leiden.“Sie wünscht sich einen umfassende­ren Blick auf den Gesundheit­sschutz während der Pandemie.

Die eingangs zitierte Mutter sieht das übertragen auf den Schulberei­ch ähnlich: „Aus meiner Sicht sind die nicht erworbenen fachlichen Kenntnisse während der verlorenen Schulzeit unser geringstes Problem.“

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