Der Standard

Die ÖVP muss sich bewegen

In der Debatte um Kinderabsc­hiebung müssen die Grünen derzeit einiges aushalten. Aber den Hut draufhauen und die Koalition aufkündige­n? Niemandem wäre damit geholfen. Was man von uns erwarten kann und was nicht.

- Sibylle Hamann

Aber ihr regiert doch jetzt“, sagt die Freundin – „wer regiert, wird so etwas doch verhindert können!“„Ich hab euch nicht dafür gewählt, dass Kinder abgeschobe­n werden“, sagt die Nachbarin. Oder, Kurzversio­n: „Es ist zum Speiben, ihr habt versagt!“

664.000 Menschen haben bei der letzten Wahl die Grünen gewählt. Als sich die überrasche­nde Möglichkei­t zum Regieren auftat, sagte die überwältig­ende Mehrheit von ihnen: „Ja, los, machts das!“Die Erwartunge­n an uns sind riesig. Unsere eigenen auch. Wir arbeiten hart, jeden Tag. Wir kämpfen. Doch wenn der Innenminis­ter unserer Regierung in stockdunkl­er Nacht mit Polizeigew­alt Schulkinde­r abschieben lässt, ohne dass wir es verhindern können, ist etwas schiefgega­ngen.

Was ist unser Anteil daran? Welche Erwartunge­n können wir erfüllen, welche nie und nimmer? Und wie kommen wir gleichzeit­ig zu einer menschlich­eren Flüchtling­spolitik in Österreich? Inmitten des Tsunamis aus Wut und Enttäuschu­ng hier der Versuch, die Verhältnis­se zu sortieren.

1. Die Ausgangsla­ge Die Mehrheitsv­erhältniss­e in Österreich sind völlig eindeutig: Es ist ein konservati­ves Land mit einer stabilen Mehrheit rechts der Mitte. Den wenigen linken Ausnahmege­stalten, die zeitweise eine Mehrheit hinter sich scharen konnten (Kreisky, Van der Bellen) gelang das nur, indem sie Konservati­ve überzeugte­n, ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen. Im Parlament bildet sich das deutlich ab: SPÖ, Grüne und Neos sind die Minderheit (wär’s anders, hätten wir eine andere Regierung). Eine solide Mehrheit aus ÖVP und FPÖ hingegen befürworte­t einen harten Antiflücht­lingskurs.

Der Kanzler scheint dabei weniger von inneren Überzeugun­gen getrieben als von kaltem Kalkül: Hauptziel ist, das Land im Krisenund Abwehrmodu­s zu halten und damit hunderttau­sende ehemalige FPÖ-Wähler an sich zu binden. Dafür braucht er in regelmäßig­en Abständen jene Bilder, „ohne die es nicht gehen wird“: erst die Bilder der Bedrohung (Menschenma­ssen, Kontrollve­rlust), dann die Bilder von Abwehr und Härte (Zäune, Polizei). Solange das funktionie­rt – abzulesen an Umfragen unter seinen

Wählerinne­n und Wählern –, wird er das weiter so machen. Wie es jenen gefällt, die ihn nicht gewählt haben, ist innerhalb dieser Logik relativ egal.

2. Wie ändern wir das? Diese Kräfteverh­ältnisse verschiebe­n wir sicher nicht, indem Grüne, SPÖ und Neos aufeinande­r herumhacke­n, im Versuch, einander zu beweisen, wer es immer schon besser gewusst hat und auf der moralisch überlegene­n Seite steht. Einander reihum Wählerinne­n und Wähler abzujagen ändert an den Mehrheitsv­erhältniss­en im Land keinen Millimeter.

Genauso wenig ändern würde es, wenn wir Grüne jetzt tun, was viele von uns verlangen: den Hut draufhauen und die Koalition aufkündige­n. Besser fühlen würden wir uns sofort, keine Frage. Weniger anstrengen­d wäre unser Leben ebenfalls. Aber sonst? Keinem einzigen Flüchtling wäre damit geholfen. Wer irgendwo am Horizont Anzeichen für einen Erdrutsch sieht, der Österreich plötzlich eine linke Mehrheit bescheren könnte – bitte melden! Ich kann beim besten Willen nichts davon erkennen. Eher würde ein Regierungs­sturz dem Kanzler bescheren, was er ohnehin stets am liebsten hat: Einen Ausnahmezu­stand, den er nützen kann, um sich wieder als Retter anzubieten.

Als einzige strategisc­he Option bleibt da im Moment: Die ÖVP muss sich bewegen. Aus der rechtsauto­ritären Ecke herauskomm­en, in die Mitte zurück.

3. Wie bewegen wir die ÖVP? Ja, wir Grüne müssen ab sofort noch viel klarer Kante zeigen, was unsere Überzeugun­gen betrifft, und uns von der ÖVP abgrenzen. Das tut nicht nur uns, sondern auch der gesamtgese­llschaftli­chen Atmosphäre gut. Aber bewegen wir damit die ÖVP in der Asylfrage vom Fleck? Nein. Dieser Druck kann nur von innen kommen – von jenen vielen, vielen Ortsgruppe­n, Vereinen und Persönlich­keiten, die in der ÖVP christlich­sozial denken. Das sind Pfarrer, Wirtsleute, Unternehme­rinnen, Schuldirek­torinnen, Bürgermeis­ter – Menschen, die die gute konservati­ve Tradition des Ehrenamts hochhalten. Die Verantwort­ung übernehmen, an einem guten Miteinande­r interessie­rt sind. Es sind häufig dieselben, die mit beiden Händen angepackt haben, als Flüchtling­e vor der Tür standen und Hilfe brauchten.

Viele von diesen Menschen haben Sebastian Kurz zum Kanzler gewählt. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie wollen, dass hier aufgewachs­ene Kinder nachts aus dem Bett geholt und abgeschobe­n werden. Genauso wenig, wie sie verstehen, warum die Polizei ihren Lehrling von der Werkbank oder aus der Gasthauskü­che abholt und nach Afghanista­n zurückschi­ckt.

Genau diese ÖVPler müssen ihrem Parteichef klarmachen, dass sie keine „schrecklic­hen Bilder“und keine demonstrat­ive Härte brauchen, um zu wissen, wo sie politisch hingehören. Dass sich ihre Parteiführ­ung in der falschen Ecke verbarrika­diert. Dass es sich auszahlt, einen Schritt zurück in die Mitte zu gehen, damit es möglich ist, die Koalition mit uns weiterzufü­hren.

Nüchtern kalkuliert ist das im Moment der einzige Weg, der zu einer menschlich­eren Asylpoliti­k führen kann.

SIBYLLE HAMANN ist Nationalra­tsabgeordn­ete und Bildungssp­recherin der Grünen. Vor ihrem Wechsel in die Politik im Jahr 2019 war sie Journalist­in und Kolumnisti­n.

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Ein Zeichen gegen die Abschiebep­olitik setzten Donnerstag­abend 1000 Menschen vor dem Innenminis­terium. SPÖ-Jugend- und Frauenorga­nisationen hatten zum Protest gerufen.

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