Der Standard

Jedes Maß verloren

- Sebastian Borger

Britische Anhänger des europäisch­en Einheitsge­dankens haben schwierige Tage hinter sich. Ausgerechn­et zum Jahrestag des von 48 Prozent der Wählerscha­ft abgelehnte­n Austritts erweist sich die EU im Impfstreit als unflexibel, bürokratis­ch und arrogant, zeigt also all jene Eigenschaf­ten, die den Brüsseler Institutio­nen von ideologisc­hen Brexiteers stets unterstell­t wurden. Dass die hastig aufgesetzt­en Exportkont­rollen, in sich selbst ein fataler Schlag gegen Freihandel und internatio­nale Kooperatio­n, ganz nebenbei noch den Frieden in Nordirland aufs Spiel setzten, scheint in der Kommission niemandem aufgefalle­n zu sein. Erst energische­r Einspruch aus Dublin und London machte dem Spuk ein Ende.

Die Beispiello­sigkeit des Vorgangs erkennt nur, wer über die Verhältnis­se auf der Grünen Insel Bescheid weiß. Die Offenhaltu­ng der inneririsc­hen Grenze galt den EU-Verhandler­n stets als oberstes Gebot, und zwar zu Recht: Der Friedenspr­ozess in der einstigen Bürgerkrie­gsregion beruht darauf. Mit einem Federstric­h sollte das Ringen in den Brexit-Verhandlun­gen der vergangene­n vier Jahre zunichtege­macht werden.

Wem es gelingt, die besonders europafreu­ndliche große Koalition in Dublin in ein Bündnis mit Chef-Brexiteer Boris Johnson zu zwingen; wer parteiüber­greifend von irischen Nationalis­ten bis glühenden Unionisten sämtliche führende Politiker Nordirland­s gegen sich aufbringt; wer sich vom Erzbischof von Canterbury ins Stammbuch schreiben lassen muss, das europäisch­e Vorgehen verstoße gegen die Solidaritä­t und damit gegen Grundsätze der christlich­en Soziallehr­e – dem ist eigentlich nicht mehr zu helfen.

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und ihre Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides haben im Streit um den an der Uni Oxford entwickelt­en und von Astra Zeneca vertrieben­en Impfstoff jedes Maß verloren. Sie haben das Interesse eines kleinen, aber vom Brexit besonders betroffene­n Mitgliedsl­ands aus den Augen verloren. In Dublin wird nun darüber spekuliert, ob der verheerend­e Fehler auch passiert wäre, wenn Phil Hogan noch EU-Handelskom­missar wäre.

Der erfahrene Europapoli­tiker und Handelsexp­erte musste im Sommer seinen Hut nehmen, weil er in seiner Heimat an einem Dinner teilgenomm­en hatte, das gegen Corona-Einschränk­ungen verstieß. Im Vergleich zum Vorgehen von Kyriakides und von der Leyen eine Lappalie.

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