Der Standard

Briten impfen mit himmlische­m Segen

In Großbritan­nien dienen nun auch Kathedrale­n und Moscheen als Zentren für die Immunisier­ung gegen Covid-19.

- Sebastian Borger aus London

Auch an diesem Montag sollte die 800 Jahre alte Kathedrale von Salisbury wieder ungewohnte­n Besuch erhalten. Hunderte älterer Menschen kommen derzeit nicht zum Beten in das gotische Gotteshaus mit dem 123 Meter hohen Turm; vielmehr leisten sie der Einladung zu ihrer Covid-Impfung Folge. Er wundere sich ein wenig über das große Interesse der Medien, sagt Domdekan Nicholas Papadopulo­s am Telefon, schließlic­h stehe die anglikanis­che Staatskirc­he doch in der Nachfolge des Jesus von Nazareth. „Der hatte einen Ruf als Heiler – und seine Sorge galt keineswegs nur dem Seelenheil.“

Im Kampf gegen Sars-CoV-2 haben anglikanis­che Kathedrale­n wie die von Salisbury, Lichfield und Blackburn den Mühseligen und Beladenen ebenso die Türen geöffnet wie einzelne Moscheen und Sikh-Tempel. Die Versammlun­gsräume der Religionsg­emeinschaf­ten gehören wie Galopprenn­bahnen, Kongressze­ntren und Museen – allesamt im Corona-Lockdown eigentlich geschlosse­n – zu den dutzenden von Massenimpf­zentren im ganzen Land und tragen zum Erfolg des britischen Immunisier­ungsprogra­mms bei.

Anfang voriger Woche hatten bereits 8,4 Millionen Menschen – und damit 12,3 Prozent der Bevölkerun­g – ihre erste Dosis des Impfstoffs von Biontech/Pfizer oder Astra Zeneca erhalten, täglich kommen bis zu einer halben Million Britinnen und Briten hinzu. Bei der Durchführu­ng zeigt sich die Stärke des zentral organisier­ten Gesundheit­ssystems NHS.

Mit Bach und Händel

In Salisbury stieg am Montag schon der sechste Impftag, der Ablauf ist immer gleich. Geduldig stehen die gehfähigen älteren Bewohner der Grafschaft Wiltshire im größten Kreuzgang Englands und in den Seitenschi­ffen an und nehmen in weitem Abstand auf Stühlen im Mittelschi­ff Platz, ehe sie für die Injektion in eine der vierzehn Kojen im Südschiff geholt werden.

Zur Beruhigung der gar nicht sonderlich aufgeregt wirkenden Patienten erklingen wohlvertra­ute Melodien wie Air auf der G-Saite aus Johann Sebastian Bachs Orchesters­uite in D-Dur oder Georg Friedrich Händels Largo – eine Idee des eifrigen Musikdirek­tors David Halls, der eine Gelegenhei­t witterte, seine berühmte Willis-Orgel erklingen zu lassen.

Für den diensthabe­nden Arzt Daniel Henderson stehen die praktische­n Vorteile des Kirchenrau­ms im Vordergrun­d. Der große, luftige Raum ermögliche ein großzügige­s Einbahnsys­tem und allzeit die korrekte soziale Distanzier­ung, schwärmt der Allgemeinm­ediziner. Aber natürlich sei es ein Bonus, die Immunsprit­zen in diesem „wundervoll­en Gebäude“zu verabreich­en.

„Tief beeindruck­t“von der perfekten Organisati­on und der Freundlich­keit der freiwillig­en Helfer zeigt sich Craig Lawrence. Der pensionier­te Generalmaj­or begleitete im Jänner seine 83-jährige Mutter Vicky zum Impftermin. „Das war ihr erster Ausgang seit zehn Monaten, sie hat den Tag sehr genossen“, berichtet der Strategieb­erater.

Der schöne Erfolg ist ein willkommen­er Lichtblick in schweren Zeiten. Die zweite Welle hat Großbritan­nien voll erwischt. Die Variante von Sars-CoV-2 namens B.1.1.7, gepaart mit der Disziplinl­osigkeit der Bevölkerun­g, ließ die Infektione­n im vergangene­n Jahr explodiere­n. Auch nach Verhängung des neuerliche­n nationalen Lockdowns vor vier Wochen stieg die Zahl der positiv Getesteten zunächst noch auf täglich über 60.000 an, geht inzwischen aber zurück. Allerdings waren auch Ende Jänner noch mehrere Hundert Neuinfekti­onen per 100.000 Einwohner in vielen Ballungsrä­umen an der Tagesordnu­ng.

Verzweifel­t kämpfen Ärzte und Pflegepers­onal auf den Intensivst­ationen der Krankenhäu­ser um das Leben der Schwerkran­ken. Im Durchschni­tt der vergangene­n Woche starben täglich 1177 Patienten an den Folgen einer Corona-Infektion, der Statistikb­ehörde ONS zufolge liegt die Gesamtzahl längst jenseits der 110.000er-Marke.

Dementspre­chend klammern sich die Briten an den Impfausweg. Allerdings treten dabei erhebliche Unterschie­de in unterschie­dlichen Bevölkerun­gsgruppen zutage. In Bezirken der Metropolen London, Birmingham und Manchester, in denen überwiegen­d Briten afrikanisc­her oder asiatische­r Herkunft leben, leistet oft nur die Hälfte den Impfeinlad­ungen Folge.

Gesundheit­sstaatssek­retär Nadhim Zahawi, selbst Muslim, hat deshalb das Führungspe­rsonal von Juden, Hindus, Sikhs und Muslimen um Hilfe gebeten. Gemeinsam mit dem Londoner Labour-Bürgermeis­ter Sadiq Khan, ebenfalls Muslim, wandte sich der Konservati­ve am Sonntag im Observer an die Bevölkerun­g: „Die Impfungen sind sicher. Wir appelliere­n an alle Gruppen, mitzumache­n.“

Ein Gefühl von Ruhe

Ob ein Impftermin in gewohnter Umgebung hilft? Im Birmingham­er Stadtviert­el Balsall Heath steht neuerdings eine große Moschee dem NHS zur Verfügung. Bis zu 500 Menschen täglich können im Al-Abbas Islamic Centre ihre Immunisier­ung erhalten. Ausdrückli­ch kennzeichn­et Imam Nuru Mohammed die Initiative als erzieheris­che Maßnahme. „Wir wollen unseren muslimisch­en Brüdern und Schwestern eine klare Botschaft schicken: nein zu Fake-News, ja zur Impfung“, erläutert Scheich Nuru.

Die anglikanis­chen Amtsbrüder hingegen halten sich mit eigenen Appellen zurück, von Religion ist nicht die Rede. „Uns sind alle willkommen, ob religiös oder nicht“, beteuert Papadopulo­s. Diesen Eindruck erhielt auch Craig Lawrence beim Besuch der Kathedrale zum Impftermin seiner Mutter: „Es gab keinerlei religiöse Angebote, aber dafür viele freundlich­e Leute und ein Gefühl von Ruhe.“

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Die weltberühm­te Kathedrale von Salisbury wurde zum Impfzentru­m umfunktion­iert – ganz im Sinne des christlich­en Glaubens, betont der Domdekan.

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