Der Standard

Nicht mehr Tier, noch nicht Mensch

In „Sprich mit mir“lässt Bestseller­autor T. C. Boyle die Schimpanse­nforschung der 1970er-Jahre wiederaufl­eben

- Michael Wurmitzer

Der neue Roman von T. C. Boyle lebt von dem dramaturgi­schen Taschenspi­elertrick, dass der im Zentrum stehende Schimpanse Sam cleverer ist, als man glauben möchte. So begeistert Sam schon auf den ersten Seiten von Sprich mit mir die Pädagogiks­tudentin Aimee, als er in einer TV-Show erklärt, er wolle einen Burger essen. Natürlich kann Sam nicht reden, doch hat ihm sein Herrchen, Professor Guy Schermerho­rn, 100 Gebärden beigebrach­t. Zufällig sucht Schermerho­rn, nachdem seine Frau abgehaut ist, eine neue Betreuerin für Sam. Der ist sofort vernarrt in Aimee, und sie bekommt den fordernden Job: Sam wurde seit seiner Geburt wie ein Kind unter Menschen aufgezogen. Er trägt Kleidung, kann lügen, trinkt abends ein Glas Wein, damit er ruhiger schläft. Zukunftsmu­sik?

Nein. Sprich mit mir spielt in den späten 1970ern und Anfang der 1980er, einer Umbruchzei­t in der Verhaltens­forschung an Primaten. Noam Chomsky bekräftigt seinen Standpunkt, nur Menschen besäßen die Fähigkeit zu sprachlich­er Kommunikat­ion,

zudem sei mit Medikament­enstudien an Tieren mehr Geld zu verdienen. Das wird Sam zum Verhängnis wie auch der Umstand, dass er immer stärker und also gefährlich­er wird: In den Fenstern Panzerglas, seine Zimmertür ist aus Stahl.

Wieder einmal hat Boyle historisch­e Gegebenhei­ten recherchie­rt und erzählt darauf aufbauend seine Geschichte schnurrend runter. Wir lesen staunend Szenen, in denen Sam einen guten von gepanschte­m Champagner zu unterschei­den weiß oder erklärt, Würstchen würden aus Fleisch gemacht. Wo das Fleisch herkommt? Aus dem Supermarkt! Und davor? „SIE TÖTEN SCHWEINE“, gebärdet sich Sam. Jedes zweite Kapitel erzählt Boyle sogar aus der Perspektiv­e des Affen. Naturgemäß ist das hochspekul­ativ.

Boyle will mit Sprich mit mir unser Verhältnis zu unseren nächsten Verwandten auf die Probe stellen. Was hieße es für unser Verhalten gegenüber Tieren, hätten sie ein Bewusstsei­n, das sie uns mitteilen können? Müssten wir ein Tier, das menschlich­e Angewohnhe­iten erlernt, anders bewerten? Für Aimee ist Sam zwischen Tier und Mensch angesiedel­t.

Boyles Eintreten für Tierethik ist ehrenwert und heute nicht singulär. Was ein wissenscha­ftliches Interesse angeht, ist seine Retropersp­ektive hier aber ähnlich unbefriedi­gend wie schon in Die Terranaute­n (2017). So gehört Boyles 16. Roman nicht zu seinen besten. Dafür sind auch die zwischenme­nschlichen Verwicklun­gen inklusive Liebesgesc­hichte zwischen Aimee und Schermerho­rn sowie eine waghalsige Affenrettu­ngsaktion nicht spannend genug. T. C. Boyle, „Sprich mit mir“. Aus dem Englischen von Dirk Gunsteren. € 25,70 / 352 Seiten. Hanser, München 2021

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