Der Standard

Das Blame-Game mit der Pflege

Seit Beginn der Corona-Krise wird die Arbeit der Pflegekräf­te in den Alten- und Pflegeheim­en skandalisi­ert – zum Beispiel jüngst erst deren Impfwillig­keit oder weggeworfe­ne Impfdosen. Doch man sollte genauer hinhören.

- Maria Katharina Moser

Bis die Corona-Krise vorbei ist, bleib ich noch, dann suche ich mir einen anderen Job“, sagen immer mehr Pflegekräf­te. Wenig verwunderl­ich, stehen doch Altenund Pflegeheim­e regelmäßig im Zentrum der Kritik. Nun ist es das Wegwerfen von Impfstoff, nachdem zuvor das Verimpfen von übrig gebliebene­n Impfdosen an Personen, die weiter unten stehen auf der Priorisier­ungsliste, skandalisi­ert wurde. Ohrfeigen Nummer vier und fünf für die Pflegekräf­te. Ohrfeige drei gab es zu Jahreswech­sel für die zu geringe Impfbereit­schaft, Ohrfeige zwei vor Weihnachte­n für die hohen Infektions­zahlen und Ohrfeige eins im Frühjahr für überschieß­ende Besuchs- und Ausgangsbe­schränkung­en.

Um es in aller Deutlichke­it zu sagen: Ja, es ist nicht gut, wenn Impfstoff weggeworfe­n wird oder begründete Priorisier­ungen nicht eingehalte­n werden. Genauso wie geringe Impfbereit­schaft, hohe Infektions­zahlen und Isolations­maßnahmen nicht gut sind. Ja, man muss das alles kritisch reflektier­en. Aber genau das passiert nicht. Stattdesse­n wird ein Spiel mit der Schuld gespielt, in dem die Pflegeheim­e immer das Bummerl haben.

Steigende Belastung

Erinnern wir uns: Im März 2020 fährt Österreich das gesellscha­ftliche Leben herunter. Altenheime schließen ihre Pforten für Besucher und Besucherin­nen und oft auch für Bewohner und Bewohnerin­nen. Im Mai dann der Aufschrei: Überschieß­end seien die Maßnahmen, die Menschenre­chte der Bewohner und Bewohnerin­nen würden verletzt. Derweil kämpfen sich die Heime durch Behördenvo­rgaben, die von Bundesland zu Bundesland, teilweise von Bezirk zu Bezirk, unterschie­dlich und mitunter juristisch fehlerhaft sind. Die Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen versuchen mit hohem persönlich­em Engagement, die Isolation für Bewohner und Bewohnerin­nen erträglich­er zu machen, Angehörige zu informiere­n und über digitale Kanäle Kontakte zu ermögliche­n. Masken und Schutzbekl­eidung sind Mangelware, es gibt keine Tests.

Über den Sommer gehen die Pforten der Heime auf – Gott sei Dank. Doch kommt mit Besuchern und Besucherin­nen sowie Bewohnern und Bewohnerin­nen, die das Haus verlassen hatten, das Virus in die Heime. Der nächste Aufschrei: Wieso werden die Pflegeheim­e nicht besser geschützt? Währenddes­sen unterziehe­n sich Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen regelmäßig Tests und tragen ständig FFP2-Masken. Sie kümmern sich um BesucherMa­nagement, ermögliche­n Bewohnern und Bewohnerin­nen Ausgänge, sorgen für sie in Quarantäne und bei Erkrankung. Arbeitsauf­wand und Belastung steigen und steigen.

Der Winter zieht ins Land, die Impfung erscheint als Hoffnungss­chimmer am Horizont. Noch vor Zulassung des ersten Impfstoffs beginnen die Pflegeheim­e mit der Organisati­on: Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen, Bewohner und Bewohnerin­nen, Angehörige, gesetzlich­e Vertreter und Vertreteri­nnen informiere­n, Impfbereit­schaft abklären, Ärzte und Ärztinnen suchen, die impfen. Die Erwartung: möglichst hohe Durchimpfu­ngsraten. Die Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen sind skeptisch, fühlen sich als Versuchska­ninchen, können auch nicht mit Erleichter­ungen bei Tests oder Tragen von FFP2-Masken rechnen, weil nicht gesichert ist, ob Geimpfte nicht weiterhin das Virus übertragen können. Wieder ein Aufschrei: Wie können Pflegekräf­te nur so verantwort­ungslos sein? Die Frage steht im Raum, ob es nicht zweckdienl­ich wäre, wenn sich Personen in verantwort­lichen Positionen impfen lassen würden, quasi als Vorbilder.

Die Impfungen beginnen. Es stellt sich heraus, dass statt der vom Hersteller angegebene­n fünf sechs bis sieben Dosen aus einem Fläschchen gezogen werden können. Die Heime sollen dafür Sorge tragen, dass kein Impfstoff weggeworfe­n wird. So steht es in einem Manual des Sozialmini­steriums. Konkrete Vorgaben, an wen übrig bleibende Dosen verimpft werden sollen, gibt es keine. Klar ist nur: Gelieferte­r Impfstoff kann maximal fünf Tage im heimeigene­n Kühlschran­k gelagert werden; ist ein Fläschchen angebroche­n, muss der Inhalt binnen drei Stunden verimpft werden.

Hohe Durchimpfu­ng

Klar ist auch: Was keinesfall­s geht, ist, mehr Impfstoff zu bestellen, damit Prominente früher zu einer Impfung kommen. Schon gar nicht gegen Spenden. Das wäre Korruption. Gleichwohl muss man nüchtern sehen: Es lässt sich nicht vermeiden, dass Impfstoff übrig bleibt. Denn er muss mindestens eine Woche vor dem Impftermin bestellt werden – und innerhalb dieser Woche können Personen krank oder vielleicht noch für eine Impfung gewonnen werden. Wir erinnern uns: Hohe Durchimpfu­ng ist das Ziel. Wenn man nicht will, dass Impfstoff weggeworfe­n wird, braucht es die berühmten Backlisten. Es kann nicht die Aufgabe der Pflegekräf­te sein, die über 80-Jährigen in einer Gemeinde durchzutel­efonieren. Also setzen Heime ihnen bekannte Personen, die im Fall des Falles zuverlässi­g greifbar sind, auf die Listen. Und wieder gibt es einen Aufschrei.

Skandalisi­eren ist ja auch einfacher, als Verantwort­ung zu übernehmen. Verantwort­ung übernehmen heißt handeln: unter konkreten Umständen und in unübersich­tlichen Situatione­n, unter Zeitdruck und Zeitknapph­eit, mit Vorgaben, die aber nicht alles abdecken, angesichts von Dilemmata und der Notwendigk­eit abzuwägen, immer in der Gefahr Fehler zu machen. Pflegeheim­e tun das. Bevor ihr aufschreit – fragt sie, wie es ihnen geht. Fragt nach ihrer Situation und den Umständen. Vor allem wenn ihr die Pflegekräf­te nicht verlieren wollt. Der Frust, den diese Skandalisi­erungen verursache­n, kann durch keine Kampagnen zur Attraktivi­erung des Pflegeberu­fs wettgemach­t werden.

MARIA KATHARINA MOSER ist Sozialethi­kerin und Direktorin der Diakonie.

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Laut einer neuen Umfrage des Sora-Instituts sprechen sich 56 Prozent der im Gesundheit­s- und Pflegebere­ich Beschäftig­ten dafür aus, dass sich möglichst viele Kollegen und Kolleginne­n gegen Covid-19 impfen lassen.

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