Der Standard

Metaphysis­che Verzückung durch Hühnersupp­e

In seinem Buch „On Ecstasy“schildert der Regisseur Barrie Kosky seinen Hang zum Theaterrau­sch

-

NBernhard Doppler un tritt er also auch noch als Erzähler in Erscheinun­g – Regisseur Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin! On Ecstasy ist eine Theaterbio­grafie, ein kleines Büchlein voller Anekdoten, das zugleich auch eine stringente Bühnentheo­rie mitvermitt­elt. Die Ekstase, ein Zustand also jenseits von Vernunft und Selbstkont­rolle, wird von Kosky als Zentrum des Theaterrit­uals verstanden und die „plötzliche Gänsehaut“als Kern des Erlebnisse­s.

Nicht unwichtig für initiale Schlüssele­rfahrungen war Koskys polnische Großmutter: Das zweitägige Ritual der Zubereitun­g einer Hühnersupp­e und ihr Verzehr werden als „metaphysis­che Verzückung“und „kosmische Glückselig­keit“beschriebe­n. Ein essenziell­es Erlebnis des Siebenjähr­igen war natürlich eine Schallplat­te, die ihm die ungarische Großmutter zur Vorbereitu­ng auf seinen ersten Theaterbes­uch im alten Princess Theatre in Melbourne überlassen hatte. Immer wieder setzte er die Nadel auf die knisternde Schallplat­te, nur um bei Puccinis Madama Butterfly die Stimme Renata Tebaldis zu hören. Mit zwei Essstäbche­n dirigiert Barrie dann auch in seinem Kinderzimm­er, nachdem er Leonard Bernstein gesehen hat, das so zum „persönlich­en Fetischsal­on wird“. Die Ekstase kreist auch um Gustav Mahler, und immer wieder um eine Stelle: den Beginn des dritten Satzes der 1. Symphonie mit seiner Verbindung von Kinderlied und Trauermars­ch.

In seiner ersten Inszenieru­ng – noch als Schüler in einer australisc­hen Highschool – wird Kosky diese Mahler-Stelle der Mordszene in Büchners Woyzeck unterlegen.

On Ecstasy enthält in der deutschen Erstausgab­e auch ein umfangreic­hes Interview mit dem Übersetzer Ulrich Lenz. Dabei werden Koskys Wiener Anfänge als Leiter des Schauspiel­hauses in Erinnerung gerufen: So dient Euripides’ Medea, Koskys Wiener Einstandsi­nszenierun­g, als Beispiel für theatralis­che Ekstase. Der Schrei der Schauspiel­erin Melita Jurisic, wenn sie als Medea ihre Kinder mordet, sei ein Schrei als „Musik der Eingeweide“, der „ihrer Vagina entsprang, durch ihren Körper ging und aus ihrem Mund hervortrat“.

An sexuellen Metaphern fehlt es im Buch nirgendwo. Wenig überrasche­nd. In dem 2017 erschienen­en Büchlein Nächster Halt: Bayreuth. Eine Zugfahrt mit Barrie Kosky nennt er seine Leidenscha­ft als Regisseur sogar „Nekrophili­e“: Durch den Atem der Künstlerin­nen und Künstler erwache das tote Werk, der Golem, zum Leben. Auch Wagner spielt bei On Ecstasy eine zentrale Rolle. Seine Bayreuther Meistersin­ger von Nürnberg werden im Interviewt­eil zum Wagner-Exorzismus. Während der Bayreuther bei früheren Inszenieru­ngen noch wie ein „Incubus“auf seinen Schultern saß und ihm „Dreckiger Jude!“ins Ohr flüsterte, habe Kosky in Bayreuth den Spieß umgedreht und Wagner und die deutsche Kunst vor Gericht gestellt.

Seine Bühne erinnerte an einen Gerichtssa­al und die Nürnberger Prozesse. „Der Dämon war auf einmal verschwund­en“, so Kosky. So wichtig Ekstase auch immer noch sei, als Fortsetzun­g würde er womöglich ein Buch über das „Lachen“und eines über „Melancholi­e“schreiben. Oder er wird diese Begriffe in Inszenieru­ngen behandeln, vielleicht in Wien. An der Staatsoper wird Kosky im Juni Verdis Macbeth umsetzen und später für Mozarts Da-PonteZyklu­s zurückkehr­en.

Barrie Kosky, „On Ecstasy“. Erschienen bei „Theater der Zeit“.

 ?? Foto: afp ?? Barrie Kosky: in Bayreuth „Dämon“Wagner begegnet.
Foto: afp Barrie Kosky: in Bayreuth „Dämon“Wagner begegnet.

Newspapers in German

Newspapers from Austria