Der Standard

Brav dabei, aber nie zuständig

Die grünen Koalitionä­re sehen sich in der Frage von Asyl und Migration in der Rolle einer QuasiOppos­ition. Das mag bequem sein, ist aber zu wenig. Die Grünen müssen sich bewegen und eine Reformdisk­ussion starten.

- CHRISTOPH LANDERER ist Kulturwiss­enschafter in Salzburg und Wien. Christoph Landerer

Das Beste beider Welten hätte es werden sollen. Nach knapp mehr als einem Jahr Türkis-Grün wird man sich fragen müssen, worin dieses Beste auf inhaltlich­er Ebene eigentlich bestehen kann – die Koalition selbst hatte man jedenfalls auf eine Weise designt, dass vor allem das Beste für die beiden ungleichen Partner paktiert wurde, zumindest auf Basis der Möglichkei­ten, die es realpoliti­sch gab.

Die Koalitions­verhandlun­gen konfrontie­rten sowohl ÖVP als auch Grüne zunächst mit dem Problem aller Regierungs­partnersch­aften: wie die eigenen Wähler halten, wenn die umgesetzte Politik auch den Wünschen des anderen Rechnung tragen muss? Doch im Fall von Türkis-Grün stellte sich dieses Problem in verschärft­er Form, da in einem für beide Parteien wichtigen Bereich – Migration und Asyl – eine Annäherung nicht möglich schien. Weder wollte die ÖVP auf jene blauen Wähler verzichten, die Sebastian Kurz erfolgreic­h mit einer harten Linie locken konnte, noch wollten die Grünen ihr Selbstvers­tändnis als „Menschenre­chtspartei“auf dem Altar der Koalition opfern.

Gelöst wurde das Problem mit der Formel der „Komplement­ärkoalitio­n“: Jeder beackert seinen Bereich, für die asylpoliti­sche Konfliktzo­ne hatte man lediglich einen allgemeine­n Rahmen vereinbart. Die konkrete Politik wurde an die ÖVP delegiert, den Grünen eröffnete sich dadurch die Möglichkei­t einer Art inneren Quasi-Opposition. Was immer sich der Partner an „Grauslichk­eiten“einfallen ließ – man war zwar nicht dafür, glückliche­rweise aber auch nicht zuständig, und hatte obendrein auch noch Schlimmere­s verhindert, jedenfalls im Vergleich mit dem Schreckges­penst einer türkis-blauen Alternativ­e.

Was so die eigenen Wähler maximieren oder zumindest halten sollte, minimierte zugleich das sachpoliti­sche Potenzial der Partkeit nerschaft. Denn nicht nur die ÖVP hatte sich dabei, wie Sibylle Hamann im Gastkommen­tar („Die ÖVP muss sich bewegen“, DER STANDARD, 1. 2. 2021) beklagt, nicht bewegt (und musste das auch nicht), auch die Grünen hatten keinerlei Anlass, liebgewonn­ene Urteilsgew­ohnheiten infrage zu stellen. Ein Teil der grünen Partei lehnt Abschiebun­gen – und damit den Vollzug des Asylrechts überhaupt – bis heute grundsätzl­ich ab und will hier auch gar keine Debatte führen. Auf der Strecke bleibt dabei das Asylsystem selbst, das auf Reformen nicht verzichten kann – wie der Fall der abgeschobe­nen georgische­n Familie drastisch vor Augen geführt hat.

Keine Vorschläge

Der Fall zeigt alle Missstände wie in einem Vergrößeru­ngsglas: Hier liefen Verfahren über einen Zeitraum von zehn (!) Jahren, behördlich­e Anweisunge­n wurden ignoriert, Asylanträg­e mit identer Begründung immer wieder neu eingereich­t. Während die Familie sich der Abschiebun­g über Jahre hinweg entzog, konnte ein Mädchen sechs Jahre ihrer Schullaufb­ahn erfolgreic­h absolviere­n, besuchte ein Wiener Gymnasium – um sich nun in einer für sie bizarren Situation wiederzufi­nden: in einer georgische­n Dorfschule, mit einer Sprache, deren Schriftbil­d sie nicht beherrscht, und in einer Umgebung, die sie fast nicht kennt.

Warum hat hier niemand Vorschläge für eine Regelung von Alt- und Härtefälle­n formuliert, mit Reformen im Gegenzug? Warum werden Asylwerber mit sehr schlechten Karten (Asylchance georgische­r Asylwerber 2019: 0,8 Prozent) nicht wie in der Schweiz priorisier­t? Niemand wird willkürlic­h von der Werkbank oder aus der Gasthauskü­che abgeholt, wenn die Verfahren bei niedriger Asylchance sofort geführt werden und eine berufliche Integratio­n nur dort stattfinde­t, wo sie Asylwerber mit hoher Bleibewahr­scheinlich­betrifft. Deren Wartezeit verlängert sich zwar, aber sie wird genutzt.

Doch eine Alt- und Härtefallr­egelung würde den einen zu viel Entgegenko­mmen signalisie­ren, während das Anliegen der anderen nicht die rechtzeiti­ge (!) Verhinderu­ng von Härtefälle­n überhaupt ist, sondern deren Delegierun­g an eine schlampige Einzelfall­ebene mit Kommission­en und der Möglichkei­t medialer und politische­r Einflussna­hme im Fall missliebig­er Entscheidu­ngen. Damit verharrt zwar alles im Status quo, aber es ist politisch auch allen gedient – nur nicht den Betroffene­n selbst.

Das Modell einer solchen Koalition, die vorderhand konträre politische Bedürfniss­e auf fast paradoxe Weise bedient, ist für die Grünen weit gefährlich­er als für die ÖVP, denn diese könnte die Koalition äußerst bequem „über die Bande“beenden – mit gezielter Eskalation im Asylbereic­h, die verlässlic­h die übliche Kette von Reaktionen aktiviert: Rumoren an der Basis, Parteiaust­ritte, Künstlerap­pelle und schließlic­h ein immer lauter werdender Ruf nach dem Verlassen der Koalition.

Kein Schreckges­penst

Die Corona-Pandemie wirbelt alles durcheinan­der, auch das politische Kalkül. Das türkis-blaue Schreckges­penst steht nicht mehr zur Verfügung, die Bedrohung kommt von einer anderen und traditione­lleren Seite. Angesichts der massiven wirtschaft­lichen Verwerfung­en dürften sich auch in der ÖVP die Stimmen jener mehren, die das klassische politische Krisenmode­ll aktivieren wollen: die große Koalition. Die Grünen sollten sich daher in eigenem Interesse auch selbst „bewegen“und von sich aus eine Reformdisk­ussion starten, bevor es dafür zu spät ist.

 ??  ?? Die Stimmung am Koalitions­tisch war schon einmal besser. Die Abschiebun­g dreier Schülerinn­en hat die Grünen vor ein Dilemma gestellt.
Die Stimmung am Koalitions­tisch war schon einmal besser. Die Abschiebun­g dreier Schülerinn­en hat die Grünen vor ein Dilemma gestellt.

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