Der Standard

Heimat, fremde Heimat

Die ÖVP findet, das Staatsbürg­erschaftsr­echt sei gut. Sie irrt, wie ein Blick auf einen internatio­nalen Vergleich zeigt: Österreich liegt da gleichauf mit Bulgarien an der letzten Stelle. Es braucht eine Reform. Nur wo sind die Grünen?

- Rainer Bauböck, Gerd Valchars

Kinder, die in Österreich geboren wurden und zur Schule gegangen sind, werden abgeschobe­n, weil ihre Eltern kein Recht auf Asyl haben. Die laufende Diskussion konzentrie­rt sich darauf, ob der Innenminis­ter trotz der negativen Entscheidu­ng der Gerichte auf die Abschiebun­g hätte verzichten können, ob das Kindeswohl nicht Vorrang vor staatliche­n Interessen hat, ob solche Fälle in Zukunft von einer Härtefallk­ommission geprüft werden sollten und ob die Länder in diese Prüfung wiedereing­ebunden werden müssen.

Einige wenige Stimmen sprechen das Offensicht­liche aus. Diese Mädchen sind aufgrund ihrer Lebensumst­ände Österreich­erinnen. Dass sie überhaupt abgeschobe­n werden können, liegt daran, dass sie nicht die österreich­ische Staatsbürg­erschaft haben. Unser Staatsbürg­erschaftsg­esetz sieht nämlich für in Österreich geborene Kinder lediglich die Möglichkei­t der Einbürgeru­ng nach sechs Jahren Aufenthalt vor, und sie müssen dabei dieselben harten Bedingunge­n erfüllen wie erwachsene Einwandere­r der ersten Generation.

Auf die Frage, ob man nicht das Staatsbürg­erschaftsg­esetz reformiere­n sollte, antwortete ÖVP-Klubobmann August Wöginger im ORF gleich zweimal: „Wir haben ein gut funktionie­rendes Staatsbürg­erschaftsr­echt.“Nein, Herr Klubobmann, das haben wir nicht! Die Brüsseler Migration Policy Group hat im Dezember die aktuellen Zahlen ihres Migrant Integratio­n Policy Index (Mipex) veröffentl­icht. Dieser gilt in den Sozialwiss­enschaften als solides Messinstru­ment für den Vergleich von Integratio­nspolitike­n. Im Jahr 2019 landet Österreich beim Zugang zur Staatsbürg­erschaft zusammen mit Bulgarien im Vergleich von 52 Staaten an der letzten Stelle.

SOS Mitmensch hat daher gefordert, dass in Österreich geborene Kinder automatisc­h die Staatsbürg­erschaft bekommen sollten, wenn ein Elternteil vor der Geburt sechs Jahre legal im Land gelebt hat. Mit einem solchen „bedingten ius soli“würde Österreich an Deutschlan­d, Finnland, Frankreich, Griechenla­nd, Großbritan­nien, Irland, Luxemburg oder Portugal anschließe­n. Das hätte aber im Fall der drei Mädchen die Abschiebun­gen nicht verhindert, weil die Mutter ja vor der Geburt nicht lange genug im Land war und ihr Aufenthalt an ihr laufendes Asylverfah­ren gekoppelt war. Nur ein unbedingte­s ius soli, bei dem die Geburt im Inland allein für den automatisc­hen Erwerb der Staatsbürg­erschaft ausreicht, hätte die Mädchen geschützt. Ein solches Geburtsrec­ht gibt es weltweit in immerhin 31 Staaten, die meisten davon liegen in Nord- und Südamerika. In Europa gibt es seit 2004 kein unbedingte­s ius soli mehr.

Reiner Zufall

Ein Argument gegen unbedingte­s ius soli ist, dass damit ein Anreiz für „Geburtento­urismus“entsteht. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Man kann auch zu Recht einwenden, dass der bloße Zufall der Geburt kein ausreichen­der Indikator für die Bindung an einen Staat ist. Wenn Kinder jedoch in einem Land aufwachsen und zur Schule gehen, dann ist das wohl ein hinreichen­der Beleg dafür, dass dieses Land ihre Heimat ist.

Zur Geburt kommt also die Sozialisie­rung im Land als zweiter und entscheide­nder Anknüpfung­spunkt dazu. Und hier gibt es mehrere europäisch­e Staaten, die als Vorbild dienen können. Sehen wir uns die beiden europäisch­en Mipex-Spitzenrei­ter an: In Portugal haben Minderjähr­ige einen Anspruch auf Einbürgeru­ng, wenn sie im Land geboren wurden und dort zumindest ein Jahr in der Schule oder in Ausbildung waren. In Schweden bekommen minderjähr­ige Kinder mit Daueraufen­thalt die Staatsbürg­erschaft nach drei Jahren (oder zwei Jahren bei staatenlos­en Kindern) ohne weitere Bedingunge­n aufgrund einer einfachen Erklärung der Eltern.

Die naheliegen­de Lösung wäre also eine Reform des Staatsbürg­erschaftsg­esetzes, die sowohl ein bedingtes ius soli einführt als auch einen Anspruch auf die Staatsbürg­erschaft für Minderjähr­ige unabhängig vom Aufenthalt­stitel ihrer Eltern. Würde das einen Anreiz für missbräuch­liche Asylanträg­e erzeugen? Das ist nicht völlig auszuschli­eßen, aber die Antwort darauf ist doch offensicht­lich: Faire und rasche Asylverfah­ren würden diesen Anreiz beseitigen.

Gibt es eine Chance auf eine solche Reform in Österreich? Die Grünen werden derzeit von vielen hart kritisiert, dass sie nicht den Mut haben, in dieser Frage auch den Koalitions­bruch zu riskieren. Die GrünenAbge­ordnete Sibylle Hamann hat recht, dass damit niemandem geholfen wäre. Im Regierungs­übereinkom­men steht allerdings kein einziges Wort zur Staatsbürg­erschaft. Dieses Thema wurde offensicht­lich ausgeklamm­ert, weil die Grünen für weitere Verschärfu­ngen nicht zu haben waren. Angesichts der Fortschrei­bung der Agenda der türkis-blauen Regierung in den anderen Bereichen der Migrations- und Asylpoliti­k war dieses Schweigen über Einbürgeru­ngen ein schwacher und wenig beachteter Erfolg der Grünen. Jetzt aber sind sie gefordert, diesen Spielraum auch tatsächlic­h zu nutzen. Angesichts der für die ÖVP unattrakti­ven alternativ­en Koalitions­varianten ist es nicht sehr wahrschein­lich, dass Bundeskanz­ler Sebastian Kurz die Koalition platzen lässt, wenn die Grünen einen Vorstoß für die überfällig­e Reform des Staatsbürg­erschaftsg­esetzes wagen.

Für die drei Mädchen braucht es jetzt eine humanitäre Rückholakt­ion. Für tausende Kinder, denen in Zukunft die Abschiebun­g aus ihrer österreich­ischen Heimat droht, braucht es eine Reform des Staatsbürg­erschaftsg­esetzes.

RAINER BAUBÖCK ist Politikwis­senschafte­r am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz.

GERD VALCHARS ist Politikwis­senschafte­r und Lektor an den Universitä­ten Wien und Klagenfurt. Beide Forscher schreiben zurzeit ein Buch über Migration und Staatsbürg­erschaft.

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Die Hürden, eine österreich­ische Staatsbürg­erschaft zu erlangen, sind hoch – viel zu hoch, sagen Experten.

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