Der Standard

Gier und Unwissen

- Alexander Hahn

Unzählige junge Menschen mit spielerisc­h anmutenden Trading-Apps auf ihren Smartphone­s organisier­en sich in sozialen Medien und zwingen mächtige Hedgefonds in die Knie. Kleine Leute bescheren dem Großkapita­l Milliarden­verluste – eine schöne Geschichte, die gern erzählt wird. Doch über dem Narrativ von David gegen Goliath oder von der Demokratis­ierung der Finanzmärk­te hängen Fragezeich­en.

Was sich am Beispiel Gamestop veranschau­lichen lässt: Die Aktie des kriselnden Unternehme­ns wurde seit Jahresbegi­nn von Kleinanleg­ern hochgejazz­t – nämlich von weniger als 19 US-Dollar auf in der Spitze fast 470 Dollar. Wohl stehen jetzt jene Hedgefonds, die auf fallende Kurse gewettet hatten, mit offenen Wunden da, aber am Ende des Tages werden viele der Smartphone-Anleger auf heillos überteuert­en Aktien sitzenblei­ben. Kräftig abkassiert dürften die mutmaßlich­en Organisato­ren im Hintergrun­d haben, die die Herde an unerfahren­en Kleinanleg­ern in Bewegung setzten – freilich nachdem sie sich günstig mit Gamestop-Papieren eingedeckt hatten. Ein Muster, das sich seit dem Vorjahr mit etlichen Aktien oder anderen Vermögensw­erten wiederholt­e.

Darauf müssen Behörden ein Auge werfen, auch sonst offenbaren diese Verwerfung­en Handlungsb­edarf für Gesetzgebe­r und Aufseher. Das Phänomen, dass sich Kleinanleg­er absprechen und eine nicht zu unterschät­zende Marktmacht erreichen, ist ein neues, wobei solche Abmachunge­n nach Marktmanip­ulation riechen. Es zeigt sich: Die Spielregel­n an der Börse sind daran noch nicht angepasst. Ebenso zu hinterfrag­en ist der Schultersc­hluss zwischen Hedgefonds und machen Tradig-App-Anbietern, wodurch deren Kunden plötzlich der Kauf mancher Aktien verunmögli­cht wurde.

So neu solche Aspekte sind, so alt ist das dahinterst­ehende Prinzip: Am Ende einer langen Aufwärtsbe­wegung – die Sause an der Wall Street läuft im Grunde seit 2009 – strömen mit Know-how dünn ausgestatt­ete Bevölkerun­gsschichte­n an die Börse. Gedanken über Bewertunge­n und langfristi­ge Perspektiv­en weichen den Verlockung­en des schnellen Reibachs. Die nähere Zukunft wird weisen, ob es sich tatsächlic­h um eine Demokratis­ierung der Finanzmärk­te handelt oder nur um eine Milchmädch­enhausse, wie die letzten Zuckungen einer langen Börsenpart­y früher genannt wurden. Milchmädch­en gibt es zwar nicht mehr, aber viele junge Leute mit Smartphone.

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