Der Standard

Fall Tina und das „demokratie­politische Defizit“

Verfassung­sjurist Mayer geht mit Regierung und Behörden hart ins Gericht

- Nina Weißenstei­ner

Der Wiener Verfassung­srechtler Heinz Mayer kritisiert nach dem aktuellen Abschiebef­all der zwölfjähri­gen Tina, ihrer Schwester und Mutter nach Georgien die Behörden und die türkis-grüne Koalition scharf: Nach Durchsicht des Erkenntnis­ses des Bundesverw­altungsger­ichts vom 23. 9. 2019 – das kein Höchstgeri­cht sei und keine Hinderungs­gründe für die Rückführun­g ausgemacht habe – ergebe sich für den Experten, dass das fragliche Kindeswohl zuletzt im Frühjahr 2019 überprüft wurde.

Das Erkenntnis ist für Mayer „eine Aneinander­reihung von Textbauste­inen“, die die Behörde offenbar öfter benutze. Das Bundesverf­assungsges­etz über die Rechte von Kindern aus dem Jahr 2011 sei dem Gericht offenbar unbekannt. Obwohl der Anwalt der Familie am 11. Mai 2020 einen Antrag auf ein humanitäre­s Bleiberech­t gestellt hat, gebe es „kein Dokument“,

das sich mit einer Zuerkennun­g eines legalen Aufenthalt­s im Fall Tina, hier geboren und mit zweijährig­er Unterbrech­ung aufgewachs­en, befasst hätte – dabei sei eine solche Entscheidu­ng zeitnah vorgeschri­eben.

Kindeswohl vorrangig

In solchen Verfahren sei im Sinne von Artikel 8 der Menschenre­chtskonven­tion bei der Beurteilun­g des Privat- und Familienle­bens nach acht Kriterien vorzugehen, etwa dem „Grad der Integratio­n“, „Bindungen zum Heimatstaa­t“oder „der strafgeric­htlichen Unbescholt­enheit“. Darüber stehe die Verfassung­sbestimmun­g. Nach Artikel 1 des BVG Kinderrech­te müsse das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Alle einfachges­etzlichen Vorschrift­en sind laut Mayer „im Lichte dieses Artikels auszulegen und anzuwenden“.

Obwohl der grüne Vizekanzle­r und Interimsju­stizminist­er Werner Kogler eine Härtefallk­ommission unter Irmgard Griss eingesetzt hat, die

Empfehlung­en für die bessere Wahrung des Kindeswohl­es bei Abschiebun­gen erarbeiten soll, sieht Mayer „ein demokratie­politische­s Defizit“bei den Koalitionä­ren.

Denn ÖVP-Klubchef August Wöginger habe klargemach­t, dass Basis der Zusammenar­beit das Regierungs­programm sei und dass keine großen Konzession­en der ÖVP zu erwarten seien. Mayer dazu: „In einer Demokratie ist die Kompromiss­bereitscha­ft zwischen Regierungs­parteien aber eine Voraussetz­ung für das Funktionie­ren des Systems, andernfall­s wird der Boden der Demokratie verlassen.“

Den Grünen hält der Jurist Grundsätzl­iches vor: „Das ist nicht das erste Mal, dass sich die Grünen dem Diktat der Türkisen unterwerfe­n. Bei einer solchen Appeasemen­t-Politik und dem Aufgeben ihrer Grundsätze verlieren sie mehr und mehr an Profil.“Sie setzten den Weg fort, „der ihren Abschied aus dem Nationalra­t 2017 mitbeförde­rt hat“.

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