Der Standard

Pocken, Polio, Corona: Impfgegner gab es immer

Sorge wegen Impfunfäll­en, krude Theorien, Demonstrat­ionen von Impfgegner­n: Seit es Impfungen gibt, werden sie hitzig debattiert, wie ein Blick in die Medizinges­chichte zeigt.

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Impfgegner gibt es, seit es Impfungen gibt“, sagt Herwig Czech, Professor für Medizinges­chichte an der Med-Uni Wien. Die Motive dafür waren einst wie heute vielfältig: Sie reichen von legitimer Skepsis über Sorge aufgrund von Impfunfäll­en und Widerstand aufgrund von Zwang bis zu bewusster Täuschung und Desinforma­tion.

Die älteste Impfung war jene gegen Pocken. Pockenvire­n führen zu schweren Erkrankung­en mit hohem Fieber, Entzündung­en und eitrigen Pusteln am ganzen Körper; bis zu 30 Prozent der Erkrankten starben daran. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts kam eine uralte Methode zur Immunisier­ung gegen Pocken aus Indien über Konstantin­opel nach Europa: die Variolatio­n. Dafür ritzte man die Haut auf und brachte Pustelsekr­et Erkrankter in die Wunde ein. Maria Theresia, die selbst an Pocken erkrankt war und drei ihrer Kinder an diese Krankheit verlor, ließ 1768 ihre jüngeren Kinder derart behandeln und eine Inokulatio­nsstation für die Bevölkerun­g einrichten. Die Immunisier­ung gegen Pocken blieb nichtsdest­otrotz unbeliebt.

Der englische Landarzt Edward Jenner impfte ab 1796 mit Vacciniavi­ren (die man damals für den Erreger der Kuhpocken hielt), weil Menschen an Kuhpocken erkranken konnten, diese Erkrankung aber harmlos war. Zu dieser Zeit wusste man noch nicht, wie ein Impfstoff wirkt, weshalb auch nicht verwunderl­ich ist, dass die Bevölkerun­g sehr skeptisch war. Es zirkuliert­en Karikature­n, in denen Menschen nach der Impfung Kühe aus dem Körper wuchsen.

Wegen der Erfolge gegen die bösartige Krankheit wurde in Bayern 1807 die Pflicht zur Pockenimpf­ung eingeführt. Diese galt auch für das besetzte Tirol und wurde 1809 im Tiroler Volksaufst­and als ein Unterdrück­ungsinstru­ment der Besatzer abgelehnt. „So etwas findet man immer wieder in kolonialen Kontexten oder wo das Verhältnis von Behörden zur Bevölkerun­g autoritär geprägt ist“, sagt Herwig Czech.

Zwangsimpf­ungen

Als Beispiel nennt er die USA, wo die Pocken oft als von den Schwarzen ausgehende Gefahr gesehen und in New York Anfang des 20. Jahrhunder­ts Zwangsimpf­ungen durchgefüh­rt wurden. Auch in Großbritan­nien wurde die Impfpflich­t eingeführt, gegen die in Leicester 1885 bis zu 100.000 Impfgegner und Befürworte­r demonstrie­rten.

Die historisch­en Beispiele zeigen, dass ein Zwang zu Impfungen kontraprod­uktiv sein kann. Teils geschieht die Ablehnung (auch heute noch) aus religiöser Überzeugun­g: Gott (ersatzweis­e „die Natur“) be

Sonja Bettel

stimme, ob man krank werde oder nicht. Teils besteht die Sorge, dass eine Impfung die Krankheit erst auslösen könnte oder andere Krankheite­n verursacht.

Die Frage, ob die Pockenimpf­ung verpflicht­end eingeführt werden sollte, habe die österreich­ischen Sanitätsbe­hörden das ganze 19. Jahrhunder­t hindurch beschäftig­t, sagt Elisabeth Dietrich-Daum, Leiterin des Forschungs­zentrums Medical Humanities der Universitä­t Innsbruck. Die Regierung habe dann auf Maßnahmen des indirekten Impfzwangs gesetzt: „Ungeimpfte­n konnte etwa der Zugang zu Stipendien oder Massenunte­rkünften wie Waisenhäus­ern verwehrt werden.“Auch aus Fachkreise­n gab es Widerstand: In Paris fand 1879 der erste Impfgegner­kongress von Naturheilk­undlern statt, weitere folgten in Deutschlan­d und England.

Besonders genährt wurde die Ablehnung von Impfungen durch Unfälle. 1921 entwickelt­en der französisc­he Mikrobiolo­ge Albert Calmette und der Veterinärm­ediziner Camille Guérin einen Impfstoff gegen Tuberkulos­e aus abgeschwäc­hten Viren. In Deutschlan­d wurde dieser 1930 erstmals in Lübeck eingesetzt und führte zu einer Katastroph­e: „256 Neugeboren­e wurden damit geimpft, 131 sind erkrankt und 77 gestorben. Das hat diese Impfung bis nach dem Zweiten Weltkrieg völlig delegitimi­ert“, erzählt Czech. Die Ursache konnte jedoch aufgeklärt werden: Die Bakterienk­ultur, die vom Institut Pasteur geliefert worden war, wurde in Lübeck in einem Labor vermehrt, in dem auch Proben von Tuberkulos­ekranken gehandhabt wurden. Den Babys wurden irrtümlich virulente Tuberkelba­zillen geimpft. Heute gibt es deshalb strenge Hygienevor­schriften für die Impfstoffh­erstellung.

Während der NS-Zeit gab es Bestrebung­en, diese Impfung zu rehabiliti­eren, unter anderem mit Wirksamkei­tstests an Kindern mit Behinderun­gen an der Wiener Universitä­tskinderkl­inik, berichtet Czech. Die Kinder starben in der „Euthanasie“-Anstalt Am Spiegelgru­nd.

Unglück und Mär

Elisabeth Dietrich-Daum nennt als Beispiel für Impfunfäll­e das „Cutter-Unglück“in den USA, bei dem 1955 tausende Kinder nach einer Impfung gegen Poliomyeli­tis an Polio erkrankten und zehn Kinder starben. Schuld war eine nicht vollständi­ge Inaktivier­ung der Viren bei der Herstellun­g des Impfstoffe­s in den Cutter Laboratori­es.

Auf echten Betrug geht die Mär zurück, dass die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) Autismus hervorrufe. 1998 veröffentl­ichte der britische Arzt Andrew Wakefield in der Fachzeitsc­hrift

The Lancet, dass zwischen der MMRImpfung und dem vermehrten Auftreten von Autismus ein Zusammenha­ng bestehe. Zwei Jahre später stellte sich heraus, dass Wakefield die Ergebnisse manipulier­t und von Anwälten große Geldsummen dafür erhalten hatte. Auch hielt er ein eigenes Patent für einen Masernimpf­stoff, das er wohl zu Geld machen wollte.

Die Veröffentl­ichung wurde von Lancet zurückgezo­gen, Wakefield erhielt Berufsverb­ot in Großbritan­nien, zog aber weiterhin mit seiner Behauptung durch die Lande. „Der Imageschad­en, den Wakefield im Zusammenha­ng mit Impfungen angerichte­t hat, ist enorm“, sagt Elisabeth Dietrich-Daum.

Echte Impfgegner sind heute nur zwei bis vier Prozent der Bevölkerun­g, hat das deutsche RobertKoch-Institut erhoben. Ihre Argumente sind trotz großer Fortschrit­te in der Impfstoffe­ntwicklung ähnlich jenen vor 100 oder 200 Jahren. In die Hände derer, die den Widerstand gegen Impfungen bewusst schüren wollen, spielen heute Social Media, die Gerüchte und Desinforma­tionen stärker verbreiten. Eine Rolle könnte aber auch die „Impfmüdigk­eit“spielen: Dank Impfungen sind viele Infektions­krankheite­n in Europa nicht mehr so präsent. Verschwund­en sind sie – bis auf die Pocken – aber nicht.

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Bitte Arm freimachen: Pockenschu­tzimpfakti­on in Hannover 1967.

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