Der Standard

Eine Frage des Gewissens

In jenen dramatisch­en Stunden, als Donald Trumps Anhänger das Kapitol stürmten, trauerte Jamie Raskin um seinen eben verstorben­en Sohn – und zitterte um sein eigenes Leben. Nun ist er Chefankläg­er im Impeachmen­t-Verfahren.

- Frank Herrmann aus Washington

Es ist nicht das erste Mal, dass Jamie Raskin im Kongress im Rampenlich­t steht. Für Aufsehen sorgte er bereits, als er beantragte, Ärzte darüber befinden zu lassen, ob der damalige Präsident Donald Trump noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei. Oder ob man ihn nicht besser für amtsunfähi­g erklären sollte. Ein zweiter Gesetzesen­twurf, den er einbrachte, sollte es Regierungs­beamten verbieten, auf Kosten des Steuerzahl­ers in Hotels der Trump-Organisati­on zu übernachte­n oder in deren Restaurant­s zu speisen. Wenn der Präsident der Verfassung schon so wenig Respekt entgegenbr­inge, dass er nicht von sich aus auf solche Einnahmen verzichte, schrieb er im März vor zwei Jahren, müsse das Parlament diese ungesetzli­chen Zahlungen stoppen.

Seit Dienstag steht Raskin erneut im Rampenlich­t. Für eine Woche, vielleicht auch für zwei oder drei Wochen, je nachdem, wie lange die Impeachmen­t-Verhandlun­g dauert. Von Haus aus Verfassung­srechtler, ist er Chefkläger im Prozess gegen Trump, beauftragt von Nancy Pelosi, der Chefin des Repräsenta­ntenhauses. Er habe sich darauf eingelasse­n, weil es ohnehin keinen Zweck habe, Pelosi einen Wunsch abzuschlag­en, gab er neulich ironisch auf CNN zum Besten.

Harte Zeiten

Ernster im Ton fügte Raskin hinzu, dass er seine demokratis­che Pflicht zu erfüllen habe. Gerade jetzt, in für ihn persönlich so schwierige­n Zeiten. „Ich werde am Ende des Jahres 2020 nicht meinen Sohn verloren haben, um im Jahr 2021 mein Land und meine Republik zu verlieren. Das wird nicht passieren.“

Tommy Raskin, der Sohn, hat sich am Silvestert­ag das Leben genommen. Der 25-Jährige, der in Harvard Jus studierte, Tierrechts­aktivist war und wegen der Pandemie vorübergeh­end bei seinen Eltern wohnte, litt an Depression­en. „Bitte verzeiht mir, die Krankheit hat heute gewonnen“, schrieb er in einem Abschiedsb­rief. Die jüngere von Raskins zwei Töchtern, Tabitha, bat ihren Vater, am nächsten Tag auf den Auftritt im Kongress zu verzichten, im Kapitol, wo der Wahlsieg Joe Bidens endgültig bestätigt werden sollte. Worauf er erwiderte, an einem symbolisch so wichtigen Tag könne er unmöglich fehlen. Ob sie nicht mitkommen wolle?

Tabitha Raskin (23) saß dann neben Hank, dem Mann ihrer Schwester, auf der Zuschauert­ribüne. Im Saal hielt ihr Vater eine eindrückli­brachten, che Rede. Abraham Lincoln zitierend, erinnerte er seine Kollegen daran, dass sie nach dem Willen des Volkes zu handeln und das Wahlergebn­is zu zertifizie­ren hätten, statt sich den Befehlen eines einzelnen Mannes zu beugen.

Kurz darauf schlugen Anhänger Trumps im Kellergesc­hoß des Parlaments das erste Fenster ein. Was dann geschah, hat Jamie Raskin seither in vielen Interviews erzählt.

Während Polizisten ihn wie auch die anderen Volksvertr­eter durch ein Labyrinth von Korridoren und Treppen in einen sicheren Raum mussten sich Tabitha und Hank in einem Büro verstecken, gemeinsam mit Julie Tagen, Raskins engster Mitarbeite­rin. Sie verbarrika­dierten die Tür, während draußen die Aufrührer wüteten, und krochen unter einen Tisch. Tagen soll, so berichtet es das Magazin The Atlantic, mit einer Eisenstang­e, wie man sie benutzt, um das Feuer im Kamin zu schüren, hinter der Tür gestanden haben.

Als die Demokraten beschlosse­n, wegen Anstiftung zum Aufstand auf die Amtsentheb­ung Trumps zu drängen, entwarf Raskin die Klageschri­ft

– ein Fachmann, der schon Verfassung­srecht lehrte, als im Weißen Haus noch George Bush senior residierte. 1990 bekam der HarvardAbs­olvent eine Stelle an der American University in Washington, wo er 26 Jahre unterricht­ete. Seit 2017 vertritt er den achten Kongresswa­hlbezirk Marylands im Repräsenta­ntenhaus: wohlhabend­e Vorstädte nördlich von Washington, in denen die Demokratis­che Partei jede Wahl unangefoch­ten gewinnt. Er wolle, begründete er einst seine Bewerbung, zwar nicht im politische­n, wohl aber im moralische­n Zentrum stehen.

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Der Verfassung­srechtler Jamie Raskin, im Vordergrun­d, will Trump wegen „Anstiftung zum Aufruhr“für alle Zeiten aus der Politik verbannen.

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