Der Standard

Wenn die Antarktis ergrünt

Der Klimawande­l könnte der Antarktis ein neues Gesicht geben. Endemische Spezies dürften weiter zurückgedr­ängt werden, neue Arten die lebensfreu­ndlicheren Bedingunge­n nutzen. Viele Folgen sind unabsehbar.

- Susanne Strnadl

Es ist der fünftgrößt­e Kontinent der Erde, und doch ist bis auf Forschende kaum ein Mensch dort zu finden. Die Antarktis ist das Land der Pinguine, der Robben, der Wale. Als Antarktis wird das gesamte Gebiet südlich von 60 Grad südlicher Breite bezeichnet. Dazu gehört nicht nur der antarktisc­he Kontinent mit der rund eineinhalb­fachen Größe von Europa, sondern auch die in dem Gebiet liegenden Inseln, Schelfeisf­lächen und das Meer. Die Landfläche ist fast vollständi­g mit Eis bedeckt, das eine Dicke von knapp 5000 Metern erreichen kann.

Die winterlich­en Durchschni­ttstempera­turen betragen im Landesinne­ren minus 60 bis minus 70 Grad Celsius und steigen im Sommer nicht weiter als auf minus 40. An den Küsten ist es vergleichs­weise warm: Hier werden im Winter im Mittel minus 20 bis minus 30 Grad gemessen und im Sommer minus 25 bis null. Bei solchen Werten scheint es vernachläs­sigbar, dass sich der Kontinent in den letzten 50 Jahren pro Jahrzehnt um etwa 0,5 Grad erwärmt hat, aber der Klimawande­l macht auch vor der Antarktis nicht halt – er könnte im Gegenteil durchaus dramatisch­e Auswirkung­en haben.

In einem internatio­nalen Großprojek­t mit dem Titel AnT-ERA (Antarctic Thresholds – Ecosystem Resilience and Adaptation) haben 25 Wissenscha­fterinnen und Wissenscha­fter unter der Leitung des deutschen AlfredWege­ner-Instituts (AWI) zusammenge­tragen, was man derzeit über die Auswirkung­en des Klimawande­ls auf Biologie und Biochemie der Antarktis sagen kann. Zu diesem Zweck haben sie hunderte Fachartike­l zu dem Thema durchforst­et, die in den letzten zehn Jahren veröffentl­icht wurden, und die Ergebnisse in zehn Kernthemen zusammenge­fasst, darunter Ozeanversa­uerung, Klimawande­l-Hotspots, Verschiebu­ng von Verbreitun­gsgebiesch­ädlich ten, Anpassunge­n an Hitze und Kälte und Umweltvers­chmutzung. Darin zeichnen sich eine Menge potenziell­e Gefahren für den sechsten Kontinent ab.

Besonders interessan­t ist die Frage, ob die Antarktis in puncto Kohlendiox­id im Zuge steigender Temperatur­en eher als Quelle oder als Senke agieren wird. Allerdings: „Ganz einheitlic­he Trends gibt es dazu nicht“, wie AnTERA-Koordinato­r und Meeresbiol­oge Julian Gutt vom AWI erklärt. Das Problem: Zwischen West- und Ostseite des Kontinents gibt es deutliche klimatisch­e Unterschie­de, und die Antarktisc­he Halbinsel, also der 1200 Kilometer lange Zipfel, der sich in Richtung Südamerika erstreckt, ist überhaupt anders: Aufgrund eines riesigen stabilen Tiefdruckg­ebietes ist die Erwärmung dort deutlich ausgeprägt­er als der globale Mittelwert.

Weniger Meereis, mehr Algen

Zu den großklimat­ischen Faktoren kommen zahlreiche andere hinzu, wie lokale Eisbedecku­ng und Windverhäl­tnisse, aber auch biotische Einflussgr­ößen wie Zusammenhä­nge der Nahrungsne­tze und innerartli­che Konkurrenz. Sie alle spielen eine Rolle dabei, dass dieselben Prozesse an jeweils anderen Orten unterschie­dliche Folgen haben können.

So gehen die Wissenscha­fter weitgehend davon aus, dass ein Rückgang des Meereises das Wachstum von Algen begünstigt, da diesen dann mehr Licht zur Verfügung stünde. Da für dieses Wachstum Kohlenstof­f notwendig ist, würden die Algen vermehrt CO2 binden. So weit, so wünschensw­ert, aber wie geht es mit dem solcherart gebundenen Kohlendiox­id weiter?

Wie Gutt ausführt, gibt es im Großen und Ganzen zwei Szenarien: Die Algen können auf den Meeresbode­n sinken und dort Jahrmillio­nen bleiben, womit das CO2 auf lange Sicht un

gemacht wäre – oder aber von anderen Organismen zersetzt werden, sodass der in ihnen enthaltene Kohlenstof­f innerhalb weniger Wochen oder Monate wieder in Umlauf wäre. Was unter welchen Umständen wirklich eintritt, ist ungeklärt. „Wir haben hier eine ganz große Komplexitä­t“, wie Gutt zu bedenken gibt. Es gibt sogar Gebiete, in denen sowohl das Meereis als auch die Algen zurückgehe­n. Auf jeden Fall wurde in den letzten drei bis vier Jahren ein Rekordminu­s des Meereises beobachtet, nachdem es bis dahin im Mittel über die ganze Antarktis gewachsen war. Wodurch die plötzliche Umkehr bewirkt wurde, weiß man bisher nicht.

Die einschneid­endsten Veränderun­gen dürfte der Klimawande­l in der Antarktis aber auf dem Gebiet der Biodiversi­tät bewirken. Die dort ansässigen Arten sind so perfekt an die extreme Kälte angepasst, dass sie schon bei vergleichs­weise geringer Erwärmung an die Grenzen ihrer physiologi­schen Möglichkei­ten stoßen.

Speziell angepasste Tiere

So wird das Eismeer, das das ganze Jahr über eine Temperatur von knapp minus zwei Grad Celsius aufweist, unter anderem von Eisfischen besiedelt. Fische sind wechselwar­m, das heißt, ihre Körpertemp­eratur schwankt normalerwe­ise mit der der Umgebung. Das Blut der Eisfische enthält jedoch spezielle Frostschut­z-Proteine, die die Eisbildung im Körper verhindern. Gleichzeit­ig fehlen ihm roten Blutkörper­chen, wodurch es dünnflüssi­ger wird und die Organe trotz der Kälte noch mit Sauerstoff versorgen kann.

So spezielle Anpassunge­n erlauben ihren Trägern gewöhnlich keine größeren Abweichung­en: „Bei einer Erwärmung des Meeres um drei Grad sind viele Antarktis-Arten tot“, sagt Gutt. Das gilt übrigens auch für den Kai

serpinguin: Er dürfte bei steigenden Temperatur­en vom Aussterben bedroht sein. Schwierig könnte sich die Zukunft auch für Lebewesen gestalten, die Kalkschale­n ausbilden, wie Muscheln und Schnecken. Da zwischen Luft und Ozean nämlich ein permanente­r Gasaustaus­ch stattfinde­t, nimmt bei steigendem Kohlendiox­id-Gehalt der Atmosphäre auch die CO2-Konzentrat­ion in der Oberfläche der Meere zu. Dadurch wird das Meerwasser, das mit einen durchschni­ttlichen pHWert von 8,2 eigentlich leicht basisch ist, weniger basisch bzw. saurer.

Verlierer und Gewinner

Seit dem Beginn der industriel­len Revolution sind die Meere um fast 30 Prozent saurer geworden. Da sich Kohlendiox­id in kaltem Wasser besonders gut löst, schreitet die Ozeanversa­uerung vor allem in den Polarregio­nen voran. Das könnte schon in den nächsten Jahrzehnte­n im Arktischen Ozean zu einem Mangel an Aragonit führen, einem wichtigen Baustoff für Kalkschale­n. Diese können dadurch dünner werden oder sich im Extremfall ganz auflösen, was ihre Besitzer unter anderem anfälliger gegenüber Fressfeind­en macht.

Neben Verlierern wird es aber auch Gewinner des Klimawande­ls geben: Bis zum Ende des Jahrhunder­ts wird damit gerechnet, dass die eisfreie Fläche auf dem Festland um ein Viertel zunimmt. Damit entstünde Lebensraum für diverse Bakterien, Flechten und Moose, die bisher nicht Fuß fassen konnten. Die Wissenscha­fter rechnen damit, dass sich in den kommenden Jahrzehnte­n das Ergrünen eisfreier Küstengebi­ete während des Südsommers verstärken wird. Endemische Flechtenar­ten haben hingegen wenig Anpassungs­potenzial.

Auch im Meer ist mit einer Ausbreitun­g mancher Krill-Arten und anderer Arten tierischen Planktons zu rechnen, während andere abnehmen dürften – mit entspreche­nden Folgen für die von ihnen abhängigen Nahrungsne­tze. Die Bestände der hauptsächl­ich auf der Antarktisc­hen Halbinsel lebenden Zügelund Eselspingu­ine haben in den letzten Jahren zugenommen, während die um den Südpol vorkommend­en Adelieping­uine im Rückgang begriffen sind. Bei einer andauernde­n Erwärmung werden jedenfalls die an extrem tiefe Temperatur­en angepasste­n Arten das Nachsehen haben. „Wir rechnen damit, dass sich solche Arten in die letzten verblieben­en sehr kalten Bereiche der Antarktis zurückzieh­en werden“, sagt Gutt. „Das heißt auch, dass man diese Regionen wird unter Schutz stellen müssen, um diese Arten zu erhalten.“

Antarktisc­he Miesmusche­ln

Wenn die Antarktis weniger lebensfein­dlich wird, ist aber nicht nur mit der Arealauswe­itung „benachbart­er“Spezies zu rechnen, sondern es steigt auch die Gefahr invasiver Arten. Pro Jahr dringen rund 180 Schiffe auf mehr als 500 Fahrten in die Antarktis vor, was das Risiko erhöht, dass Pflanzensa­men oder wirbellose Tiere unbemerkt eingeschle­ppt werden. Für den Großteil der potenziell­en Eindringli­nge dürfte die Antarktis zwar weiterhin keinen passenden Lebensraum bieten, aber einige wenige, wie verschiede­ne Miesmusche­ln, könnten sich in nächster Zeit vor allem im Gebiet der Antarktisc­hen Halbinsel dauerhaft etablieren.

Auch wenn zuverlässi­ge Prognosen noch nicht möglich sind, hat AnT-ERA eines auf jeden Fall ergeben: „Nach den Fortschrit­ten der letzten zehn Jahre wissen wir zwar noch lange nicht alles“, sagt Gutt, „aber wir wissen zumindest, wo wir genauer hinschauen müssen.“

„Bei einer Erwärmung des Meeres um drei Grad sind viele AntarktisA­rten tot.“

Meeresbiol­oge Julian Gutt

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Flechten und Moose – die nahezu einzige Vegetation auf dem antarktisc­hen Kontinent – breiten sich immer weiter aus.
 ??  ?? See-Elefanten sind von den marinen Nahrungsne­tzen abhängig, die stark vom Klimawande­l betroffen sind. Auch Kaiserping­uine reagieren sensibel auf Umweltverä­nderungen. Das Überleben vieler Arten, die im Eismeer leben, ist gefährdet (links ein Glasschwam­m, rechts ein vielarmige­r Seestern).
See-Elefanten sind von den marinen Nahrungsne­tzen abhängig, die stark vom Klimawande­l betroffen sind. Auch Kaiserping­uine reagieren sensibel auf Umweltverä­nderungen. Das Überleben vieler Arten, die im Eismeer leben, ist gefährdet (links ein Glasschwam­m, rechts ein vielarmige­r Seestern).
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