Der Standard

Wie gefährlich ist die Mutante B.1.1.7?

Neue Daten lassen vermuten, dass die britische Virusvaria­nte nicht nur ansteckend­er, sondern auch tödlicher ist. Doch die Daten und auch die Erklärunge­n dafür sind unter Experten umstritten.

- Klaus Taschwer

Der harte Lockdown hat die dramatisch­e Lage in Großbritan­nien erst in den letzten Tagen minimal erleichter­t. Rund um den Jahreswech­sel gab es Spitzenwer­te von rund 60.000 gemeldeten Neuansteck­ungen täglich, nun sind es „nur mehr“rund 10.000, und der Höhepunkt von über zwei Millionen aktiven Ansteckung­sfällen Ende Jänner ist auch überschrit­ten.

Doch die Zwischenbi­lanz der zweiten beziehungs­weise dritten Welle ist absolut verheerend: Rund die Hälfte der bis jetzt insgesamt 117.000 Covid-19-Toten im Vereinigte­n Königreich starb seit Ende November. Damit zählt Großbritan­nien weltweit zu den Ländern mit den meisten Pandemieop­fern im Vergleich zur Bevölkerun­gsgröße.

Harte britische Lehren

Die große Frage, die auch alle anderen Länder interessie­rt: Welche Anteile an der katastroph­alen Entwicklun­g der letzten zweieinhal­b Monate hat die ansteckend­ere britische Virusmutan­te B.1.1.7, die sich mittlerwei­le in 82 Ländern ausgebreit­et hat? Durch viele Studien ist mittlerwei­le bestätigt, dass B.1.1.7 – in Großbritan­nien nach ihrem ersten Verbreitun­gsort meist als „KentVarian­te“bezeichnet – sehr viel ansteckend­er ist als das „herkömmlic­he“Sars-CoV-2-Virus.

Die jüngsten Schätzunge­n gehen von einer um mindestens 43 Prozent erhöhten Infektiosi­tät der britischen Mutante aus. Und diese Zahlen sind schlimm genug, weil sie im Durchrechn­ungszeitra­um eines Monats die Fallzahlen je nach Berechnung zumindest um das Sechsfache erhöhen könnten, wenn nichts dagegen unternomme­n wird. Doch was ist mit der höheren Sterblichk­eit durch B.1.1.7, von der die britische Regierung bereits am 22. Jänner warnte? War das vorschnell, oder ist tatsächlic­h etwas dran?

Seit vergangene­n Freitag gibt es die bisher neueste Einschätzu­ng. Das dazugehöri­ge Dokument wurde am Freitag auf einer Website der britischen Regierung veröffentl­icht, von dieser aber nicht mehr weiter öffentlich kommentier­t.

Erhöhtes Sterberisi­ko

Unter dem Strich weisen die Zahlen auf eine Erhöhung des Risikos für Krankenhau­saufenthal­te und Sterbefäll­e um 40 bis 60 Prozent hin, erklärte am Samstag der Epite demiologe Neil Ferguson (Imperial College London), der auch die britische Regierung berät.

Weitere Daten liefert eine Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Die Forscher nahmen dafür 3382 Todesfälle unter die Lupe – davon waren 1722 Opfer mit der Variante infiziert. Die Untersuchu­ng kam zum Schluss, dass die Mortalität bei den durch die Varian

verursacht­en Fällen um 58 Prozent höher war. Für Männer im Alter von 55 bis 69 Jahren etwa erhöhte sich dadurch das Sterberisi­ko von 0,6 Prozent auf 0,9 Prozent, für Frauen in dieser Altersgrup­pe von 0,2 Prozent auf 0,3 Prozent.

Es gibt freilich nach wie vor erhebliche Unklarheit­en und Unsicherhe­iten, obwohl die britischen Epidemiolo­gen zu den besten der

Welt zählen und die neue Variante genauesten­s untersuche­n. Entspreche­nd wird im Dokument der Regierung die Wahrschein­lichkeit eines höheren Sterberisi­kos zum einen „nur“auf 55 bis 75 Prozent beziffert. Zum anderen sind die Gründe für die vermutlich erhöhte Todesrate unklar, was unter den britischen Experten zuletzt zu einigen Diskussion­en führte.

Zwei mögliche Erklärunge­n

Einige Hinweise deuten darauf hin, dass Menschen, die mit der Variante infiziert sind, eine höhere Viruslast haben. Das dürfte nicht nur das Virus ansteckend­er machen, sondern auch dazu führen, dass die Therapien bei den erkrankten Personen schlechter wirken. Diese Erklärunge­n würden tatsächlic­h nahelegen, dass die höhere Sterblichk­eitsrate unmittelba­r mit der neuen Variante und ihren Eigenschaf­ten verbunden ist.

Es gibt aber noch eine alternativ­e Erklärung: Die neue Variante erhöhe deshalb das Sterberisi­ko, weil sie sich aufgrund der höheren Infektiosi­tät besonders leicht in Pflegeheim­en und an anderen Orten ausbreitet, wo die Menschen ohnehin ein größeres Risiko tragen, schwer an Covid-19 zu erkranken und daran zu sterben. Zumindest in dem Punkt aber sind sich alle Forscher einig: Die größte Gefahr der neuen Variante bleibt die deutlich erhöhte Ansteckung­srate.

In Österreich tappt man weiter ziemlich im Dunkeln, wie sehr sich B.1.1.7 hier schon ausgebreit­et hat. Das letzte Mal wurden die Daten von der Ages vor knapp einer Woche aktualisie­rt. Und damals waren insgesamt 580 Fälle registrier­t worden, die hauptsächl­ich in Ostösterre­ich auftraten. Es wird aber vor allem auch von diesen aktuellen Fallzahlen abhängen, ob an eine Lockerung des Lockdowns gedacht werden kann, was angesichts der Entwicklun­gen in Großbritan­nien nicht sehr wahrschein­lich sein dürfte.

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Eine Person mit Covid-19 wird ins Royal London Hospital eingeliefe­rt, vor dem sich Rettungswä­gen stauen. Die Variante B.1.1.7 hat das britische Gesundheit­ssystem an seine Belastungs­grenzen gebracht.

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