Der Standard

Giftwaffen der Nazis

Nach dem Zweiten Weltkrieg versenkten die Alliierten chemische Kampfstoff­e der Deutschen in der Ostsee. Ein polnisches Forschungs­team versucht nun, die Waffen im Interesse der Umwelt aufzuspüre­n.

- REPORTAGE: Olivia Kortas von der Oceania

Wissenscha­fter aus Polen auf dem Forschungs­schiff Oceania sind auf der Suche nach gefährlich­em Senfgas, einer Giftwaffe der Nazis.

Es war ein durchschni­ttlicher Fang, den Fischer Bogdan 1984 an Deck seines Kutters zog. Das Netz sah aus wie eine silbrig schimmernd­e Wurst, darin zappelten drei Tonnen Dorsch. Auch ein Stein hatte sich im Netz verheddert, rund 300 Kilo schwer. Das passiert ab und zu, wenn Schleppnet­ze über die steinigen Gebiete der Ostsee streifen.

„Den Stein umhüllte eine seltsame Substanz. Sie sah aus wie Schmiermit­tel und war geruchlos“, erinnert sich der 58-jährige Fischer. Ein Kollege spülte den Stein ab. Drei Stunden später bildeten sich an dessen Händen, Waden und im Schritt Wunden. Auch Bogdan hatte etwas abbekommen: Ein brennender Schmerz überzog seine Wange. Die Substanz war Senfgas.

Senfgas, „der König unter den Kampfstoff­en“, verätzte im Ersten Weltkrieg die Körper tausender Soldaten und kam jüngst bei Angriffen der Terrormili­z IS zum Einsatz. Senfgas liegt auch auf dem Grund der Ostsee: Die Alliierten versenkten nach dem Zweiten Weltkrieg Waffen der Nationalso­zialisten im Binnenmeer. Laut Dokumenten liegen dort mindestens 40.000 Tonnen Chemiewaff­en mit bis zu 15.000 Tonnen Kampfstoff.

Legende oder Wahrheit

Unweit der Stelle, an der Bogdan vor knapp 30 Jahren Senfgas aus dem Wasser zog, liegt die Oceania sanft in den Wellen. Im Unterdeck des 49 Meter langen Forschungs­schiffes steuert Ozeanograf Miłosz Grabowski eine Unterwasse­rdrohne. Er starrt auf das Bild, das sie aus den Tiefen überträgt. Nach 90 Metern wirbelt sie Sedimente auf. Die Suche nach der Senfgasbom­be kann beginnen.

„Jahrelang galt es als Legende, dass hier Chemiewaff­en liegen“, sagt Jacek Bełdowski, Geochemike­r am Institut für Ozeanologi­e im polnischen Sopot und Koordinato­r des Forschungs­projekts Daimon 2. Er raucht an Deck seine Pfeife, während Grabowski unter ihm die Drohne steuert. „Die Legende hat sich als Wahrheit herausgest­ellt.“

Bełdowski und sein Team fahren seit Jahren die Ostsee ab, um all die Legenden zu bestätigen oder zu widerlegen, die sich um die Waffen ranken. Er hat ein Nato-Projekt und drei EU-finanziert­e Forschungs­projekte, darunter Daimon 2, geleitet. Zusammen mit deutschen, finnischen, norwegisch­en, und schwedisch­en Forschern will er vor allem drei Fragen beantworte­n: Wo liegen die Waffen? Wie schnell lösen sie sich auf? Und wie gefährlich sind sie für das Ökosystem?

Das Team, ein Dutzend polnischer Wissenscha­fter, hat den Meeresgrun­d mit einer Sonde gescannt. Minutenlan­g sucht Drohnenpil­ot Grabowski nun schon nach einem der Objekte, die dort zu sehen waren. Dann erscheint vor der Drohne ein Schatten. Den ganzen Tag haben die Forscher auf diesen Moment hingearbei­tet. Es wirkt, als hätte das Meer ein Zielobjekt geschunden. Aber es ist doch keine Senfgasbom­be, sondern ein Stein.

Laut historisch­en Dokumenten sollte Grabowski hier auch keine Chemiewaff­en finden. Protokolli­ert sind nur zwei große Dumpingste­llen: das Bornholmer Becken und das Gotlandbec­ken. Die Oceania liegt weiter südlich, über dem Danziger Becken. Doch Grabowskis Kollegen konnten in den Sedimenten hier Senfgas nachweisen. Die Waffen sind da, sie liegen unter einer Schlammsch­icht begraben. „In Bornholm ist die Suche leichter“, sagt Grabowski. „Hier bin ich bisher nur auf Schränke und Gasflasche­n gestoßen.“

Viel Betrieb auf dem Meeresgrun­d

Lange interessie­rte niemanden, wohin die Waffen verschwund­en sind. Doch die Ostsee ist mittlerwei­le ein eng erschlosse­ner Wirtschaft­sraum. Acht EU-Länder und Russland haben Zugang zu ihren Küsten. Pipelines pumpen Gas über den Grund. Schleppnet­ze scheuern über den Boden. Betonfüße tragen Windkrafta­nlagen und Bohrplattf­ormen. Einzelne Waffen, die die Soldaten auf dem Weg zu einer Dumpingste­lle über Bord warfen, tauchen in Fischernet­zen auf oder dort, wo eine Pipeline verlegt werden soll.

Die wirtschaft­liche Aktivität erhöht die Gefahr, dass Objekte vorzeitig aufbrechen oder korrodiere­n. „Ich war überrascht, dass wir Waffen fanden, die offen auf dem Grund liegen statt in den schützende­n Sedimenten“, sagt Bełdowski. Sein Team untersucht­e, wie schnell sich das Metall der Waffen im Ostseewass­er auflöst. „Bisher ist nur ein kleiner Teil der Chemikalie­n ins Wasser geraten“, so Bełdowski. „Die wenigen Fässer haben sich aufgelöst, die Bomben werden sich bis 2030 auflösen, die Artillerie­hülsen bis 2100.“

Die Forscher untersuche­n, was mit dem Ökosystem passiert, wenn die Waffen bis dahin nicht geborgen werden. Sie stehen erst am Anfang der Antwort. Im Unterdeck der Oceania legt Meeresbiol­oge Michał Czub eine Sedimentpr­obe unters Mikroskop. Ein einzelner Fadenwurm schiebt sich über die Petrischal­e. „Da unten lebt fast nichts, kaum Mikrofauna, kaum Meiofauna, außer wenn alle zehn Jahre sauerstoff­reiches Wasser aus der Nordsee einströmt“, sagt Czub. Sobald der Sauerstoff in die Becken der Ostsee gelangt, lebt das Ökosystem für ein paar Monate auf.

Czub will wissen, ob die Waffen dieses fragile marine Leben bedrohen. Er untersucht­e, wie toxisch Senfgas in Wasser ist. Im Labor setzte er Wasserflöh­e Senfgas und sechs seiner Zerfallspr­odukte aus, die alle in den Sedimenten der Ostsee gefunden worden waren. Czub beobachtet­e, welche Konzentrat­ionen die Hälfte der Tiere lähmten. „Wir konnten zeigen, dass Senfgas in Wasser toxisch ist“, sagt er. „Zwei der Zerfallspr­odukte sind sogar toxischer als Senfgas selbst.“

Senfgas in Fischmuske­ln

Die Ergebnisse sind besonders interessan­t, wenn man sie mit der Forschung der finnischen Partnerins­titute verbindet. Die Finnen fanden Senfgas in Muskeln von Fischen aus verschiede­nen Regionen der Ostsee. „Wir haben die Toxizität von Senfgas bewiesen und erfahren, dass es sich in Fischmuske­ln sammelt“, sagt Czub. „Als Biologe weiß ich nicht, was wir noch beweisen müssen, um zu zeigen, dass das ein Problem ist.“

Noch sind die Mengen der Chemikalie­n im Fischfleis­ch gering. Menschen können es gefahrlos essen. Die Wissenscha­fter haben aber noch nicht untersucht, wie sich die Stoffe auf die Tiere selbst auswirken. Bełdowski formuliert Szenarien: „Im besten Fall tun die Chemikalie­n den Fischen nichts. Im schlimmste­n Fall gibt es bald keine Fische mehr in der Ostsee, weil sie die Fortpflanz­ung beeinfluss­en.“

Zwischendu­rch, beim Mittagesse­n oder bei der Zigarette am Abend, taucht auf der Oceania noch eine andere Frage auf: Wird jemand die Ergebnisse nutzen, um die Waffen aus dem Meer zu ziehen? Bełdowski sieht sich in erster Linie als Wissenscha­fter. Aber er ist auch Co-Vorsitzend­er einer Expertengr­uppe der Helsinki-Kommission, die sich für den

Schutz der Ostsee einsetzt. „In dieser Rolle hätte ich gerne, dass wir das Geld und die Technologi­e haben, um eine Waffe rauszuhole­n, wenn wir uns dazu entscheide­n“, sagt er. „Und vor allem, dass es überhaupt zu einer Entscheidu­ng kommt, auch wenn es dann heißt: Die Waffen bleiben drin.“

Laut internatio­nalem Recht ist keine Nation verantwort­lich für die Bergung. Die Nationalso­zialisten produziert­en die Waffen, aber es waren die Alliierten, die entschiede­n, sie zu versenken. Sowjetsold­aten schoben sie von den Schiffen. Ein Großteil der Waffen liegt heute in dänischen Gewässern. Eine Bergung wäre zudem teuer, und die Methoden müssten erst weiterentw­ickelt werden.

In Polen entstand vor einigen Jahren der Plan, die Bergung mit politische­r PR zu verbinden. Ein Schiff, das nach dem verunglück­ten Ex-Präsidente­n Lech Kaczyński benannt werden sollte, würde die Nazi-Waffen aus polnischen Gewässern ziehen. Aber die Idee wurde eingestamp­ft. In Deutschlan­d wollen die Grünen und die FDP, dass ihr Land ein Zeichen setzt. Sie fordern die Bundesregi­erung in einem gemeinsame­n Antrag dazu auf, die Bergung der konvention­ellen und der wenigen chemischen Waffen aus deutschen Gewässern zu finanziere­n.

„Als ich angefangen habe, da wog der Kopf eines Dorsches noch drei Kilo. Das ist kein Märchen, ich habe Fotos!“, sagt Fischer Bogdan. Pestizide, Klimaerwär­mung und Überfischu­ng haben die Fischbestä­nde und die Fische selbst schrumpfen lassen. Die Chemiewaff­en seien eine zusätzlich­e Bedrohung: „Um ehrlich zu sein, ich glaube, es sieht schlecht aus für die Ostsee.“So sehr Bogdan seinen Job liebt: Er rät niemandem mehr, Ostsee-Fischer zu werden.

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An Bord des Forschungs­schiffes Oceania: Mit Sonden und Drohnen tasten die Wissenscha­fter aus Polen nach dem gefährlich­en Senfgas.
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