Der Standard

„Nation ist fast ein N-Wort geworden“

Die deutsche Kulturwiss­enschafter­in Aleida Assmann will das Sprechen über die Nation nicht ausschließ­lich Rechten überlassen. Ein Gespräch über Identitäts­kämpfe in Europa und den USA und darüber, warum ein Abschied vom Nationalst­aat gefährlich wäre.

- INTERVIEW: Stefan Weiss

Ihre Forschung über kollektive­s Gedächtnis hat Generation­en von Kultur- und Sozialwiss­enschafter­n geprägt. In ihrem jüngsten Buch Die Wiedererfi­ndung der Nation – warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (C.H. Beck) stellt sich Aleida Assmann nun einer Frage, die aus ihrer Sicht zu lange unbeleucht­et blieb, die sich nun aber angesichts von Rechtspopu­lismus, Identitäts- und Separation­skämpfen in Europa und den USA drängender denn je stellt.

STANDARD: Warum wir die Nation fürchten, dürfte klarer sein als die Frage, warum wir sie brauchen. Warum ist sie noch immer wichtig? Assmann: Es gibt an den Universitä­ten seit 30 Jahren die Tendenz, die Nation zu tabuisiere­n. Sie ist fast ein N-Wort geworden. Ich wende mich aus einer linksliber­alen Position heraus gegen extreme Linke, die meinen, Nationen seien abzuschaff­en, und versuche, bei ihnen Gehör zu bekommen. Auf dem ultrarecht­en Spektrum habe ich diese Hoffnung weniger, weil die sich sehr festgelegt haben. Ich halte es mit Ralf Dahrendorf­s Plädoyer für eine „heterogene Nation“von 1994: „Wer immerfort dem Nationalst­aat das Totenglöck­chen läutet, der zerstört damit auch das Fundament von Rechtsstaa­t und Demokratie.“

STANDARD: Nation heißt also nicht sofort Nationalis­mus und schlimmste­nfalls Faschismus, sondern zunächst Demokratie­entwicklun­g? Assmann: Ja. Und das Fasziniere­nde an der heutigen Europäisch­en Union ist für mich, dass es hier Nationen, die fast alle Diktaturen waren, gelungen ist, sich selbst in einem Verbund zu zähmen und die demokratis­chen Prinzipien zu schützen. Das ist einmalig.

STANDARD: Dennoch bröckelt dieser Verbund immer mehr, was auch mit Erinnerung zu tun hat. Fühlen sich ehemalige Ostblockst­aaten durch mehr und mehr EU-Zentralism­us gedanklich in die Sowjetunio­n zurückvers­etzt? Assmann: Tatsächlic­h sprach der polnische Präsident, als er das Haus der europäisch­en Geschichte in Brüssel besucht hatte, von Brüssel als dem neuen Moskau. Der Grund war, dass er dort das Heiligste, was es für ihn gibt, nämlich die polnische Nation, nicht finden konnte. Und ja, es gibt Mitgliedst­aaten wie Polen oder Ungarn, die inzwischen die EU offen zu ihrem Feindbild erklären. Dieses Problem wird in der EU aber auch permanent diskutiert. Dass diese Staaten nicht einfach konsequent aus der EU ausgeschlo­ssen werden, hängt damit zusammen, dass es in beiden Staaten auch starke zivilgesel­lschaftlic­he Bewegungen gibt, die man damit nicht einfach im Stich lassen möchte.

STANDARD: Sie gehen bei der Frage Europas in Opposition zur Politologi­n Ulrike Guérot und zum Schriftste­ller Robert Menasse, die sich eine europäisch­e Republik wünschen – ein Europa der Regionen anstelle der Nationen. Warum? Assmann: Ich habe Sympathien für die Intention, den rechtliche­n Status aller EU-Bürger anzugleich­en. Was ich aber anders als Robert Menasse nicht glaube, ist, dass Nationen ihrem Wesen nach immer nationalis­tisch sind. Ich sehe die EU als ein Versicheru­ngssystem dagegen. Bei Guérot fehlt mir die kulturelle Dimension. Als Politologi­n mag sie bei politische­n Strukturen recht haben, aber sie unterschät­zt die soziale Kraft der Nationen.

STANDARD: Viel ist heute die Rede von gespaltene­n Nationen. In den USA richtete Black Lives Matter den Zorn gegen Denkmäler des rassistisc­hen Amerika, rechte Trump-Anhänger haben fast postwenden­d das Kapitol gestürmt. Was passiert bei solchen symbolisch­en Aktionen? Assmann: Es gibt dort keinen Minimalkon­sens über die gemeinsame amerikanis­che Geschichte. Diese Nation hat sich nie auf der Basis einer gemeinsame­n Geschichte, sondern aufgrund einer gemeinsame­n Zukunftsvi­sion zusammenge­schlossen. Das war der amerikanis­che Traum, von dem die schwarze Bevölkerun­g weitgehend ausgeschlo­ssen war. Die besondere Geschichte der Schwarzen ist in diesem Land nie anerkannt worden.

STANDARD: Sie sprechen in Ihrem Buch den USPolitolo­gen Francis Fukuyama an, der die neuen Identitäts­kämpfe als berechtigt, aber auch schädlich für den sozialen Zusammenha­lt sieht. Er fordert, alle Gruppen unter einer inklusiven Form des Nationalis­mus zu vereinen. Was unterschei­det Ihr Konzept von dem Fukuyamas? Assmann: Fukuyama stammt selbst aus einer

„Es gibt in den USA systematis­chen Rassismus, dagegen helfen Bekenntnis­se nichts.“

ehrgeizige­n asiatische­n Einwandere­rfamilie, die am weißen amerikanis­chen Traum partizipie­ren konnte. Er hat für meine Begriffe zu wenig Blick für die schwarze Bevölkerun­g. Sein Konzept ist die Bekenntnis­nation, die zum Beispiel durch den Fahneneid in den Schulen Zusammenha­lt schaffen soll. Aber es gibt systemisch­en Rassismus, dagegen helfen Bekenntnis­se nichts. Ich halte es mit James Baldwin, der sagte: Nichts lässt sich ändern, bevor man sich nicht damit auseinande­rsetzt. Okay, es gibt im Februar den Black History Month: Dann sind vor allem die schwarzen Schulklass­en in den Museen unterwegs. Weiße geht das nichts an. Da leben Parallelge­sellschaft­en mit entgegenge­setzten Narrativen.

STANDARD: Zum Star von Joe Bidens Angelobung wurde mit Amanda Gorman eine junge schwarze Dichterin. Kamala Harris ist die erste nichtweiße Vizepräsid­entin. Wird die Enttäuschu­ng abermals groß sein, wenn „oben“Diversität gelebt wird und sich „unten“an den realen Verhältnis­sen wenig ändert?

Assmann: Unterschät­zen Sie nicht, was Symbolpoli­tik bedeutet! Da hat Biden einen sehr guten Instinkt bewiesen. Dass Amanda Gormans Auftritt in diese sehr traditione­lle Inaugurati­on hineinplat­zte, war fast ein zweiter „I have a dream“-Moment. Von Enttäuschu­ng möchte ich erst einmal nicht sprechen. Aber natürlich müssen den Worten Taten folgen.

ALEIDA ASSMANN (73) ist Kulturwiss­enschafter­in und Professori­n (em.) der Uni Konstanz. 2018 erhielt sie den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.

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Die EU der Nationalst­aaten ist für Aleida Assmann auch ein Versicheru­ngssystem gegen Nationalis­mus. Zu viel Zentralism­us sieht sie hingegen skeptisch.

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