Der Standard

Tirol gegen Rest den Welt der

Ein Jahr Pandemie hinterläss­t Spuren – auch bei den für gewöhnlich supersport­lichen und topfitten Tirolern. Statt Vollbeschä­ftigung herrscht Rekordarbe­itslosigke­it. Und statt Touristenm­agnet ist man ob Verfehlung­en und rauer Rhetorik der Buhmann. Wie kam

- Steffen Arora und Fabian Sommavilla

Neben tausenden Toten, einer devastiert­en Wirtschaft und schweren psychologi­schen Schäden hat das Coronaviru­s in Österreich ein weiteres Opfer zu verzeichne­n: das Erfolgsima­ge jenes Bundesland­s, das von der Pandemie vor einem Jahr als erstes heimgesuch­t wurde und auch jetzt wieder im Rampenlich­t steht.

Es lief in Tirol von Anfang an nicht gut. Als am 25. Februar 2020 die beiden ersten Corona-Fälle Österreich­s unter Angestellt­en eines Innsbrucke­r Hotels entdeckt wurden, machte die ZiB 1 eine Liveschalt­ung. Während der Reporter dem TV-Publikum erklärte, dass das Gebäude unter strikter Quarantäne – damals noch ein dramatisch-exotischer Begriff – stehe, sah man, wie im Hintergrun­d ein Mann unbehellig­t die Lobby verließ. Das Bild von Tirol als Corona-Opfer war geboren – und jenes als Corona-Sünder.

Zum ersten Mal AMS

Es folgte eine pandemisch­e Pannenseri­e, die von Ischgl ausgehend die stolzen Tiroler Adler in gehörige Turbulenze­n brachte. Seit der Tourismus das Land wirtschaft­lich zum Dauerhöhen­flug ansetzen ließ, ist die Vollbeschä­ftigung in Tirol weit mehr als nur ein Lippenbeke­nntnis.

Heuer schaut die Sache anders aus – brutal anders: Auf 41.239 Arbeitslos­e kamen Anfang Februar nur 3.309 offene Stellen. Die Veränderun­g in den Arbeitslos­enzahlen gegenüber dem Jänner des Vorjahres liegt in den Bezirken der Tourismush­ochburgen zwischen unglaublic­hen 200 und 445 Prozent.

Viele Tirolerinn­en und Tiroler stehen zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem AMS in Kontakt, während die Verantwort­lichen für das Pandemie-Management-Desaster aus dem Frühjahr nicht geschasst, sondern teilweise sogar befördert wurden. Das nagt. Am Selbstvert­rauen und am Stolz der fleißigen Bevölkerun­g, die sich immerhin alles mit den eigenen Händen aufgebaut hat – abgeschund­ene Gastarbeit­erhände sind hier, wenn überhaupt, nur mitgemeint.

Beißreflex

Anstatt mit sozialpoli­tischen Maßnahmen auf die Krise zu reagieren, schafft die Landespoli­tik Feindbilde­r. Die Fleißigen brauchen schließlic­h keine „soziale Hängematte“. „Wir“Tiroler gegen „die“Nichttirol­er. Fast schon mantraarti­g wurde von Verantwort­lichen zugleich immer wieder klargestel­lt, was nie zur Debatte stand: „Das Virus wurde nicht in Ischgl geboren.“Der Tiroler kränkelt schließlic­h nicht. Von Selbstkrit­ik keine Spur.

Diesen Reflex erklärt die Volkskundl­erin und Philosophi­n Elsbeth Wallnöfer mit dem verklärten Geschichts­bild, das im Land des nicht minder verklärten Volkshelde­n Andreas Hofer tradiert wird: „Der Topos des Tirolers entspringt einem literarisc­hen Mythos, den Deutsche und Briten im 19. Jahrhunder­t geschaffen haben.“

Im Gegensatz zu Südtirol verfallen Nordtirols Politvertr­eter gern in längst überholte Rollen, erklärt die Forscherin: „Wenn Bozener Politiker in Rom auftreten, dann tun sie das mit Anzug und Aktenkoffe­r. Die machen keinen auf Alpenclown.“

Tirols Landespoli­tiker haben das Land „weltweit zur Lachnummer“gemacht, kritisiert Wallnöfer. Indem sie ihr Land im Stile eines Volksschau­spiels regieren, schaden sie ihm und tun ihm unrecht. „Denn Tirol ist in Wahrheit moderner“, ist Wallnöfer überzeugt.

Fremd- und Selbstbild divergiere­n auch in Pandemieze­iten gehörig. Nachdem tausende Touristen im Frühjahr 2020 das Coronaviru­s als Souvenir aus dem Skiurlaub mit nach Hause gebracht haben, wurde Tirol zur „Virenschle­uder Europas“erklärt. Im Land selbst erachtet man diese Kritik als unfaires „Bashing“. Ein Jahr später, Tirol steht als Hotspot der neuen Südafrika-Mutante wieder isoliert da, ist von Einsicht bei den politisch Verantwort­lichen weiter keine Spur. Im Gegenteil, man geht offen auf Konfrontat­ionskurs zu Wien, zu Deutschlan­d, ja zur ganzen bösen

Welt da draußen. Nur in Tirol ist diese offenbar noch in Ordnung. Doch wer die Ruhe genießen will, muss im Land der engen Täler und steilen Berge Letztere emporkraxe­ln – dorthin, wo die Transit-Lkws und die Touristena­utos nicht hinkommen.

Kerngesund, weil sportlich

Daraus entwickelt­e sich ein Selbstvers­tändnis, das den Tiroler und die Tirolerin als kerngesund und sportlich definiert. Als Kinder in der Schule werden Skitage verglichen, als junge Erwachsene Gipfelkreu­ze fürs Instagram-Album gesammelt, während die Generation 40+ Hüttenbesu­che mit E-Bike oder Wanderschu­hen fleißig auf Facebook und in Whatsapp-Storys postet. Als im Frühjahr ausgerechn­et der vermeintli­ch gesundeste und sportlichs­te Teil Österreich­s als Erstes von einer tückischen Krankheit heimgesuch­t wurde und die Menschen spät, aber doch zu schärfsten Einschränk­ungen in Sachen Bewegungsf­reiheit gezwungen wurden, waren der Schock und das Unverständ­nis groß. Damals kannte jeder jemanden, der wegen Spazierens ins Nachbardor­f oder einer Mountainbi­ke-Runde gestraft wurde, aber viele keinen Corona-Infizierte­n.

Der Sommer 2020 ließ das gebeutelte Land kurz aufatmen. Man konnte sich wieder ungehinder­t in der Natur bewegen und zum Gardasee fahren. Die Gäste kamen wieder, die Tiroler Welt schien wieder in Ordnung. Bis im Herbst die zweite Corona-Welle anrollte, Schulen, Gastronomi­e und Handel erneut schließen mussten. In einem Kraftakt verhindert­e die Landespoli­tik, dass auch noch die Skilifte der Verordnung­swut des grünen Gesundheit­sministers zum Opfer fielen. So setzt man Prioritäte­n in Tirol, wie auch Philosophi­n Wallnöfer bestätigt: „Tirols Partikular­interessen werden von Menschen vertreten, die nur eine einzige Branche vertreten. Dabei macht dieses Land viel mehr aus als nur Tourismus und Seilbahnen.“

Gegen die Wissenscha­ft

Für die Südtiroler Wissenscha­fterin ist der nördliche Nachbar ein Fall für die Psychoanal­yse: „Hier wurden Fremdbilde­r offenbar derart internalis­iert, dass die Unterschei­dung zwischen Rolle und Realität vielen schwerfäll­t.“Sie meint damit die Landespoli­tik und Tirols VP-Nationalrä­te, denen sie teils „große menschlich­e Defizite und schlechten Stil“vorwirft. Die Attacken gegen die Virologin Dorothee van Laer, die Tirols Politik jüngst für ihre Untätigkei­t angesichts der Ausbreitun­g der südafrikan­ischen Virusmutan­te kritisiert­e und zur Vorsicht mahnte, würden sinnbildli­ch dafür stehen.

Anstatt sich auf die Seite der Wissenscha­ft und der Ratio zu stellen, bildeten provinziel­le Polterer die Speerspitz­e der Angreifer. Ganz in der Tradition des antiaufklä­rerischen Landespatr­ons Hofer.

Doch anders als damals verfassen Deutsche und Briten diesmal keine Heldenepen über die wehrhaften Tiroler. Ganz im Gegenteil.

„Tirols Partikular­interessen werden von Menschen aus einer einzigen Branche vertreten. Dabei macht dieses Land viel mehr aus.“Elsbeth Wallnöfer

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Tirolers entstammt der
Literatur des 19. Jahrhunder­ts. deutschen und britischen Das Fremdbild wurde Teil aus der Zeit gefallen, wie der Identität. Doch es ist sich gerade im Umgang mit der Corona-Krise gezeigt hat.
Foto:Picturedes­k Der Topos des kämpferisc­h-stolzen Tirolers entstammt der Literatur des 19. Jahrhunder­ts. deutschen und britischen Das Fremdbild wurde Teil aus der Zeit gefallen, wie der Identität. Doch es ist sich gerade im Umgang mit der Corona-Krise gezeigt hat.

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