Der Standard

Suche nach der verlorenen Freiheit

Ein Klassiker der Drastik in Wien: Calixto Bieito, der seine legendäre „Carmen“-Inszenieru­ng am Sonntag an die Wiener Staatsoper bringt, im Gespräch über seine Verwandtsc­haft mit der Titelfigur und Missbrauch­serfahrung­en.

- Stefan Ender

In seiner Kindheit und seiner Jugend ist er für sein Leben gern gelaufen. „In Miranda de Ebro war es im Winter sehr kalt“, erzählt Calixto Bieito, „so kalt wie in Wien.“Er sei gerannt und gerannt und gerannt, ganz lang und ganz schnell, bis sein Gesicht rot war. „Da habe ich mich frei gefühlt.“

Im Erwachsene­nalter hat Calixto Bieito dann inszeniert und inszeniert und inszeniert. Schon mit Mitte zwanzig galt er Ende der 1980erJahr­e – in seiner neuen Heimatstad­t Barcelona – als aufstreben­der Regiestern und bekam Einladunge­n zu internatio­nalen Theaterfes­tivals. Kollege Luc Bondy schwärmte Frank Baumbauer von einer CalderónIn­szenierung Bieitos vor, 2001 inszeniert­e dieser dann bei den Salzburger Festspiele­n.

Seine zwischen Nekrophili­e und Pornografi­e angesiedel­te MacbethDeu­tung begeistert­e und verstörte das Publikum zu gleichen Teilen, doch es ging noch eindeutige­r: Zwei Jahre später sollte eine Don Giovanni-Inszenieru­ng in Hannover 3500 Abonnenten zur Kündigung motivieren. Bieito wurde zum prominente­sten Regieberse­rker der Nullerjahr­e, zur Bühnenfach­kraft für Blut, Schweiß und Sperma.

Ein „Soziologe suburbaner Gewaltexze­sse“, wie man einst befand, oder ist Bieito doch nur ein Regisseur mit der „Ästhetik einer Müllpresse“? Fragen, die nun endlich auch in Wien erörtert werden können – anhand von Georges Bizets Blockbuste­r Carmen.

Lieber sterben!

Es ist eine Inszenieru­ng, die der Spanier mit der markanten Glatze schon seit zwei Jahrzehnte­n auf den großen Opernbühne­n der Welt zeigt: Das Verlangen nach Freiheit, das bei dem Künstler schon als Kind immanent war, es ist auch für die Zigaretten­dreherin aus Sevilla das Allerwicht­igste. Der eigene Wille als oberstes Gesetz! Tatsächlic­h lieber sterben als klein beigeben! Ist es eigentlich das, was Bieito an der selbstbest­immten Opernfigur seit Jahrzehnte­n fasziniert?

Er sei in Miranda de Ebro in eine Schule gegangen, die von Jesuiten geleitet wurde, erzählt der Regisseur verschnupf­t im unterkühlt­en Konferenzz­immer der Staatsoper. „So wie Luis Buñuel. Unser Humor ist ähnlich, das führe ich darauf zurück. Man hat damals gesagt, dass aus den Schülern der Jesuiten entweder Priester, Politiker und Technokrat­en werden – oder Freigeiste­r. Ich bin ein Freigeist geworden.“

An ebendieser Schule sei er auch von einem Lehrer missbrauch­t worden, im Alter von zehn oder elf Jahren. „Er war eigentlich ein netter Mensch, aber sehr schmutzig. Er hat mich versucht zu küssen – und einiges mehr. Ich habe mich gewehrt und bin weggerannt.“Auch so eine Art wehrhafter, selbstbest­immter Carmen-Moment – in seinem eigenen Leben? „Ja.“

Als der heute 57-Jährige Bizets Oper vor über zwei Jahrzehnte­n erstmals in Szene gesetzt hat, ist er zur Vorbereitu­ng auf eine längere Reise nach Marokko gefahren. Warum nach Afrika? Es sei ihm von Anfang an klar gewesen, dass das Sevilla von heute nichts mehr mit dem Stück zu tun habe.

Fündig geworden

Also ist Bieito Mitte der 1990erJahr­e nach Fez gefahren und nach Tanger, in die Berge Marokkos und in die Wüste. In Ceuta, einer spanischen Exklave in Nordafrika, ist er dann tatsächlic­h fündig geworden. In Carmen drehe sich, so Bieito, alles um Grenzen, um die Überwindun­g von mentalen und physischen Grenzen. Und in Ceuta hätte er diese Grenze nun ganz real vor seinen Augen gehabt.

Calixto Bieito beantworte­t die ihm gestellten Fragen auf eine ruhige Weise, der in Basel lebende Vater zweier Söhne im Teenageral­ter spricht leise, fast etwas monoton. Und auf welche Weise inszeniert er? Er sei in seiner künstleris­chen Arbeit immer sehr fokussiert, meint der Autor, Regisseur und Filmemache­r. „Ich vermeide es, Energie zu vergeuden.“Schon als Jugendlich­er sei er „wie eine Katze“gewesen: „entspannt, aber immer auf dem Sprung“.

Die Wien-Premiere seiner weltläufig­en Inszenieru­ng (mit Anita Rachvelish­vili als Carmen, Piotr Beczała als Don José, Erwin Schrott als Escamillo und Dirigent Andrés Orozco-Estrada) musste wegen einiger Covid-Fälle an der Wiener Staatsoper verschoben werden. Nun findet sie am 21. Februar „nur“vor den Fernsehkam­eras statt (LiveÜbertr­agung ab 20.15 Uhr auf ORF III). Schwierig? „Natürlich leben wir in Zeiten, die noch nie da waren“, meint der Regisseur lapidar. „Aber als man Berlin bombardier­t hat, hat Wilhelm Furtwängle­r trotzdem Konzerte für 200 Menschen dirigiert, in bitterer Kälte“, meint Bieito in einem fragwürdig­en Vergleich.

Nun, ja. Es sei jedenfalls wichtig, dass man immer weitermach­e. „Wenn ich morgens aufwache und an diesem Tag eine Probe habe, bin ich glücklich.“

Viel gearbeitet

Er sei auch froh, dass er im letzten Jahr trotz der Veranstalt­ungsverbot­e relativ viel hätte arbeiten können. Und auch die vielgescho­ltenen Streamings sieht Bieito durchwegs positiv: Man könne so Menschen erreichen und für Kultur interessie­ren, die man sonst nicht erreicht hätte. „Ich habe in Salamanca und Bilbao in Gegenden mit ärmerer Bevölkerun­g Bildschirm­e im öffentlich­en Raum bespielt – mit einem Ligeti-Konzert!“

Wie hätte Carmen, die große Freiheitsl­iebende, seiner Meinung nach auf die lang anhaltende­n Restriktio­nen reagiert? Bieito schmunzelt und zuckt mit den Schultern. „Wir wissen es nicht.“Er zumindest würde immer alle Anweisunge­n für das Reisen und die Proben befolgen. „Der einzige Weg, wie wir diese Pandemie überwinden können, ist wohl durch Zusammenar­beit und durch Vertrauen.“

„Wenn ich morgens aufwache und an diesem Tag eine Probe habe, bin ich glücklich.“

Calixto Bieito

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„Ich vermeide es, Energie zu vergeuden“, erzählt Calixto Bieito. Bereits als Jugendlich­er sei er „wie eine Katze“gewesen: „entspannt, aber immer auf dem Sprung“.

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