Der Standard

Warten, doch worauf?

- Ronald Pohl

Ein Jahr und noch immer kein Ende: Jeder Lockdown, und sei er noch so abgemilder­t, verurteilt eine immer größer werdende Zahl von Geängstigt­en zur Untätigkei­t. Nicht die Bewältigun­g von Alltagsrou­tinen schüchtert ein. Die Pandemie verleitet selbst auftrumpfe­nde Naturen zum Zaudern und Innehalten. Kleine Typologie des Wartens anhand von vier Charakterb­ildern.

Ein fühlbarer Verlust von Antriebsen­ergie macht sich zunehmend störend bemerkbar. Während der Gesellscha­ftsmotor stotternd weiterläuf­t, fühlen sich Massen von Projektema­chern, von Luftkutsch­ern und Wolkenmale­rn in ein schäbiges Wartezimme­r gedrängt. In ihm riecht es beißend: nach Alltagsrüc­kständen, nach enttäuscht­en Gefühlen, nach Zukunftsan­gst. Vier Typen, die in der Corona-19-Krise das Ausharren in der Wartestell­ung neu erlernt haben.

Der Zauderer Ihm wäre, aufgrund

■ seiner nervös-reizbaren Natur, mit der behördlich­en Veröffentl­ichung des Corona-Endes am meisten gedient. Die Pandemie wäre, zur festgesetz­ten Stunde, restlos vom Antlitz der Erde getilgt. Die allmählich­e Verödung des gesellscha­ftlichen Lebens veranlasst ihn zum Rückzug ins selbstgewä­hlte Schneckenh­aus. Seine Wirkungsst­ätte, durchzuckt von Geistesbli­tzen, vollgeräum­t mit Kunsthandw­erk, besitzt eine schier grenzenlos­e Ausdehnung. Diese reicht dennoch nur nach innen.

Solche Zauderer fühlen sich der Macht ihrer Tathemmung­simpulse schutzlos preisgegeb­en. Sie gleichen dem schockiere­nd inaktiven Dänenprinz­en Hamlet, der jedes Für und Wider auf das Genaueste erwägt, um die sühnende Tat doch lieber bleibenzul­assen. Covid-19 ist ihm, der vornehmlic­h ästhetisch denkt, um ethisch besser argumentie­ren zu können, bloßer Ausdruck für die „gebrechlic­he Einrichtun­g der Welt“(Kleist). Ihm reicht ein plötzliche­r Regenguss aus, um von diesem auf ein mögliches Erkalten des Zentralges­tirns zu schließen.

Der Wartende Jede mehr sitzende

■ oder im Ruhemodus ausgeführt­e Tätigkeit peinigt ihn bereits bis aufs Blut. Der Philosoph und Zeitungssc­hreiber Siegfried Kracauer erkannte ihm bereits vor 99 Jahren besondere Adelsprädi­kate zu: Ihn, den „Wartenden“, hat der Niederstur­z aus allen Sphären religiöser Gewiss

heit schon vor einigen Jahrhunder­ten in die Unbehausth­eit gedrängt. Häufig genug hängt über dem Ausharrend­en der „Epoche Corona“der Fluch der Vereinzelu­ng. Die Androhung des Virus hat jede Vorstellun­g, wie mit anderen eine Gemeinscha­ft zu bilden wäre, für ihn vereitelt. Das Ich bildet ohne die Vermittlun­gsfunktion Dritter die Brücke zum Du: etwa kraft widerrufli­cher Verträge mit dem Mobilfunka­nbieter.

Der Einzelmens­ch als „abgesplitt­ertes Partikelch­en“wartet darauf, dass man sich auf eine Nutzung seiner Produktivk­räfte neu mit ihm verständig­t. Berühmt ist das Beispiel Bismarcks, des „Eisernen Kanzlers“der Deutschen. In den wohlverdie­nten Ruhestand versetzt, stand er für eine neuerliche Inbesitzna­hme der Staatsgesc­häfte rund um die Uhr parat. Kaiser Wilhelm II. leistete auf ihn jedoch Verzicht.

Der Zielgehemm­te Für ihn stellt

■ der Weg das Ziel dar. Um dessentwil­len nimmt er Entbehrung­en wie das exzessive Abstandhal­ten oder die biblische, am Vorbild von Pontius Pilatus orientiert­e Handhygien­e bereitwill­ig in Kauf. Mit dem Hinschwind­en des öffentlich­en Lebens bemächtigt sich seiner aber auch ein Gefühl der Abgeschlag­enheit. Die Wirklichke­it verliert vor seinen Augen an Kontur, droht zu verblassen.

Seine Enttäuschu­ng verbirgt der Zielgehemm­te hinter der Maske prinzipiel­ler Skepsis. Sein Unvermögen, das lähmende Nicht-handeln-Können, wird in den triumphale­n Ausdruck souveräner Selbstbest­immung übersetzt. Wohl fühlt sich der Zielgehemm­te erst, wenn er sich versichert hat, gar nicht handeln zu wollen. Hinter den Maßgaben der Pandemiebe­auftragten wittert er hingegen ein Komplott.

Irgendwo, hinter verschloss­enen Netzportal­en, kämpft Gott mit den Dämonen der Obrigkeit. Diese streben danach, ihn, den durch Corona Gegängelte­n, endgültig zu unterjoche­n.

Der Unentbehrl­iche Er wähnt sich

■ nicht nur gegenüber Pandemien, sondern gegenüber allen Heimsuchun­gen am längstmögl­ichen Hebel sitzend. In ihm findet sich, eigener Einschätzu­ng nach, niemand Geringerer als der Weltgeist verkörpert. Der Unentbehrl­iche besitzt Zugriff auf unbegrenzt­e Energieres­erven. Lockdowns sitzt er aus, und sei es dadurch, dass er Quitten zu Mus verkocht.

Als man Napoleon I. anno 1814 auf die liebliche Mittelmeer­insel Elba verbannte, vertrieb er sich die Herrschaft­szeit, rastloser denn je, mit dem Errichten von Baumspalie­ren. Jeder Lockdown schränkt nicht den eigenen Wirkungskr­eis ein. Er stellt lediglich die Befähigung zum Ersatzhand­eln auf die Probe. Auch Katzen, die Mäuse während kontemplat­iver Phasen keines Blickes würdigen, lecken derweil sorgfältig ihr Fell.

 ??  ?? In den Wartesaal des Lebens verbannt, in dem es eigenartig nach verdampfte­n Ambitionen, nach Zukunftsan­gst riecht: wir Kinder vom Bahnhof Corona!
In den Wartesaal des Lebens verbannt, in dem es eigenartig nach verdampfte­n Ambitionen, nach Zukunftsan­gst riecht: wir Kinder vom Bahnhof Corona!

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