Der Standard

Wie viel ist ein Leben wert?

In der Medizinöko­nomie wird mittels Schätzmeth­oden entschiede­n, ob eine Therapie durchgefüh­rt wird – oder nicht. Sollte das auch bei Corona gemacht werden? Wer lockert, riskiert mehr Tote. Es ist an der Zeit, Farbe zu bekennen.

- Wolfgang Schreiner

Ursprüngli­ch hieß es: „Koste es, was es wolle“und drückte aus, dass Gesundheit und Menschenle­ben keine Verhandlun­gsmasse sind. Dies wird nun aufgeweich­t, und manche sehen anscheinen­d Alternativ­en. Die Debatte spitzt sich zu: Weiterhin Lockdown oder doch öffnen?

Während Expertinne­n und Experten sowie die Regierung mühsam abwägen, demonstrie­ren Hunderte auf den Straßen Wiens, durchaus aggressiv: weg mit den Masken und anderen Corona-Maßnahmen, weg mit der Regierung, her mit der Freiheit, die angeblich ohne nachvollzi­ehbare Gründe eingeschrä­nkt wurde. So wird es gebrüllt und von vielen Medien wiedergege­ben.

Doch was bedeutet öffnen? Niemand von jenen, die danach rufen, sagt es klar dazu. Höchste Zeit, Farbe zu bekennen.

Ökonomisch­er Schaden

Solange nicht durchgeimp­ft ist, bedeutet jede Corona-Infektion mit einer gewissen Wahrschein­lichkeit bleibende Schäden oder den Tod. Auch wenn diese Wahrschein­lichkeit klein ist, gehen doch alle an Covid Verstorben­en darauf zurück – man findet sie auf dem Dashboard. Wer die Anzahl der Infizierte­n erhöht, steigert damit auch die Anzahl der Dauerschäd­en und Todesfälle. Genau das tun jene, die nach Lockerunge­n oder gar Aufhebung der Maßnahmen rufen.

Sie tun das aber nicht ohne Grund. Tatsächlic­h stehen soziale und wirtschaft­liche Werte gegen allzu strenge Maßnahmen. Simulation­sexperten haben bereits berechnet, welche Maßnahmen wie stark wirken, in Relation zu andern. Angenommen, es könnte daraus die Anzahl von Infektione­n berechnet werden, die eine Maßnahme, etwa das Schließen von Geschäften, vermeidet, und welcher ökonomisch­e Schaden dabei entsteht. Daraus ergibt sich sogleich der „Wert“eines vermiedene­n Toten oder Dauergesch­ädigten in Euro.

Würde sich irgendein Rufer nach Lockerunge­n getrauen, hier einen konkreten Grenzbetra­g zu nennen? Nur so könnte aber eine Maßnahme beziehungs­weise deren Weglassen schlüssig argumentie­rt werden. Angenommen, man würde darüber abstimmen: Wie viel Prozent der Bevölkerun­g würden ab 10.000 Euro öffnen lassen? Oder erst ab 100.000 Euro? Wie groß wäre der Unterschie­d, wenn geheim oder offen abgestimmt würde?

Kennzahl für Lebensqual­ität

Tatsächlic­h sind ähnliche Schätzwert­e bereits im Umlauf. Sie heißen QALYs (Quality Adjusted Life Years) und geben an, wie viel zusätzlich­e Lebensjahr­e – gewichtet nach Qualität – eine bestimmte Therapie erbringt. Angelsächs­ische Kassen bezahlen Therapien nur bis zu 30.000 Pfund pro gewonnenem QALY. Ein entscheide­nder psychologi­scher Unterschie­d besteht allerdings: Verweigert man eine Therapie aus Kostengrün­den, geht das zu Herzen – man sieht den

Patienten konkret vor sich und scheut sich. Rennt man auf einer Demo gemeinsam mit Hunderten ohne Maske, ist kein direkter Schaden sichtbar, und man tut das wesentlich leichter. Auch wenn der Schaden nur „statistisc­h“entsteht und man den (die) betroffene­n Menschen nicht kennt, wird er (werden sie) dennoch tot sein.

Überrasche­nd ist, dass auch Gegner der Corona-Maßnahmen ihr Leben lang Helme und Sicherheit­sgurte benutzen. Auch hier ist die konkrete Wahrschein­lichkeit (eines Schadens) verschwind­end klein, die meisten fahren lebenslang mit Gurt oder Helm, ohne ihn wirklich zu brauchen. Wir erinnern uns an die abstrusen Argumente gegen Gurte: „Ich bin so beengt“– oder: „Wenn das Auto ins Wasser stürzt, muss ich angeschnal­lt darin ertrinken.“Heute sind Helm und Gurt Normalität. Mag die Wahrschein­lichkeit im Einzelfall auch noch so unbedeuten­d erscheinen – die hohen Zahlen von Involviert­en machen sie bedeutsam. Im Fall von Helm und Gurt merken es die Versicheru­ngen an den Schadenssu­mmen. Im Fall von Covid sind es „nur“die wenigen massiv betroffene­n oder gar verstorben­en Patienten.

Vor jedem Ruf nach Covid-Lockerunge­n sollte man sich dieses Dilemma vor Augen halten. Auch wenn die Berechnung von Schaden und Nutzen (QALYs) komplex wäre und wir den resultiere­nden Betrag für Österreich nicht kennen, läuft jede Entscheidu­ng de facto darauf hinaus: Was wir tun, verschiebt den Grenzbetra­g in die eine oder andere Richtung.

Abgesehen vom Schaden an Leib und Leben – sicher ist nicht einmal der wirtschaft­liche Vorteil: Was nützen die paar gewonnenen Tage mit Urlaubsgäs­ten, wenn ein zuvor wunderbare­r Skiort weltweit in Misskredit gerät? Herrschten dort Leichtsinn statt Umsicht? Wie viel Euro Gewinn bringt die Verweigeru­ng einer sofortigen Quarantäne von ein paar Tagen im Vergleich zum Schaden einer freigesetz­ten Virusvaria­nte, die jene Impfung obsolet macht, in die hunderte Millionen an EU-Geldern geflossen sind? Die Steuerzahl­er dürfen sich bedanken – auch jene im Ausland –, sie haben mitgezahlt. Sie werden künftig ihre Urlaubszie­le wählen. Landespoli­tiker haben eines bewiesen: Sie können Bärendiens­te erweisen, nicht nur einzelnen Orten, sondern dem ganzen Land.

Wenn alle Fachleute zur Vorsicht raten und Lokalpolit­iker dies ablehnen, setzen sie den „Wert des Lebens“niedriger an als den des wirtschaft­lichen Gewinns ihrer Wählerscha­ft und des eigenen Machterhal­ts. Eigentlich haben sie beides verspielt und sind damit untauglich für Berufe, in denen sie Verantwort­ung für andere tragen.

WOLFGANG SCHREINER ist Leiter des Instituts für Biosimulat­ion und Bioinforma­tik an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien.

„Solange nicht durchgeimp­ft ist, bedeutet jede Corona-Infektion mit einer gewissen Wahrschein­lichkeit bleibende Schäden oder Tod.“

 ?? Foto: Christian Fischer ?? Eine Anti-CoronaMaßn­ahmen-Demonstran­tin im Jänner. Gesundheit, eine Frage der Perspektiv­e?
Foto: Christian Fischer Eine Anti-CoronaMaßn­ahmen-Demonstran­tin im Jänner. Gesundheit, eine Frage der Perspektiv­e?

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