Der Standard

Not und Gebot: Grundrecht­e in Quarantäne

Die Staaten greifen im Kampf gegen Corona zu Maßnahmen, die sonst nur im Krieg denkbar wären. Den Protest dagegen zu verachten ist falsch. Unmut muss ein Ventil haben: Zu demonstrie­ren ist ein solches.

- Heribert Prantl

„Unzufriede­n sein, unbequem sein, empört sein, auch aufsässig: Man darf das, ja; und man soll das auch zeigen und zeigen dürfen.“

Nicht die Freiheit muss sich rechtferti­gen, sondern ihre Beschränku­ng und Begrenzung: So lernen es die Juristen schon im Anfängerse­minar. In der Corona-Zeit begann dieser Satz zu wackeln und zu bröckeln; er wurde von der Politik umgedreht. Daher war und ist der Lehrsatz von der Verhältnis­mäßigkeit der Mittel noch nie so wichtig wie in der Corona-Krise. Er ist kein Wischiwasc­hiSatz. Es ist ein Satz mit Substanz, ein Kernsatz des Rechts. Und „Maß halten“– das ist kein Wort zum Schmunzeln, sondern ein Wort, das die Grundrecht­e vor übermäßige­n Eingriffen schützen soll; es ist ein rechtsstaa­tlicher Überspannu­ngsschutz.

Es ist eine Stimmung entstanden, die Grundrecht­e in Krisenzeit­en als Gefahr betrachtet. Man konnte und kann beobachten, wie ansonsten kritische, aber sehr gesundheit­sbesorgte Menschen schon aggressiv reagieren, wenn einer zu fragen wagt, ob es denn angemessen und verhältnis­mäßig sei, was der Staat da an Verboten verordne. Wer sich nicht daran gewöhnen möchte, dass massivste Einschränk­ungen der Grundrecht­e zu den Bewältigun­gsstrategi­en einer Krise gehören, sieht sich schnell in eine Reihe mit „Querdenker­n“, „Covidioten“oder gar mit Neonazis gestellt, die sich die Grundrecht­e, die sie sonst verachten, jetzt auf einmal wie einen Tarnanzug überziehen.

Keine Verschwöru­ngsfuzzis

Die Aufregung über echte und angebliche Verschwöru­ngsfantast­en überlagert die notwendige Diskussion über die Einschränk­ung von Grundrecht­en. Es darf nicht so weit kommen, dass diejenigen, die die Grundrecht­e verteidige­n oder die aus existenzie­ller Angst gegen die Schutzvero­rdnungen protestier­en, weil diese sie wirtschaft­lich und psychisch zum Absturz bringen, auf einmal als Verschwöru­ngsfuzzis abgefertig­t werden. Das Wort „Verschwöru­ngstheoret­iker“

ist ein Diskussion­s-Totschlag-Wort geworden, mit dem denen, die anderer Meinung sind, der Mund gestopft werden soll. Und wer zu oft „Verfassung“sagt, macht sich verdächtig. Das ist nicht gut.

Grundrecht­e sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten. Sie heißen Grundrecht­e, weil sie sich in Notzeiten grundlegen­d bewähren müssen. Demokratie lebt von mündigen Bürgerinne­n und Bürgern und vom permanente­n Aushandeln von Kompromiss­en – die auf wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen beruhen, aber alle anderen Interessen, Bedürfniss­e und Notwendigk­eiten in den Blick nehmen. Die naturwisse­nschaftlic­hen Erkenntnis­se sind wie die geisteswis­senschaftl­ichen meist nicht völlig eindeutig; sie unterliege­n einem Wandel und unterschie­dlichen Einschätzu­ngen. Eine Politik, die schlechtes Gewissen, Panik und Angst schürt, ist da kontraprod­uktiv. Und eine Politik, die behauptet, die Anti-CoronaMaßn­ahmen seien allesamt „alternativ­los“, ist undemokrat­isch.

Welche Antworten auf die Pandemie auch immer gesucht und gefunden werden – das Suchen und Finden darf kein autoritäre­s werden; es muss ein demokratis­ches Suchen und Finden bleiben. Es muss mit dem Wissen einhergehe­n, dass es immer eine Vielheit von Stimmen und Alternativ­en, dass es den mühsamen Weg des Hörens, Verstehens und Aushandeln­s gibt. Nicht nur die Bekämpfung des Virus ist das Ziel. Auch der Weg dahin ist das Ziel – nämlich dabei die Gesundheit der Demokratie und den gesellscha­ftlichen Ausgleich zu bewahren.

Die Pressefrei­heit heißt Pressefrei­heit, weil die Presse die Freiheit verteidige­n soll. Es gilt heute, die Freiheit unter der Gefahr des Coronaviru­s zu verteidige­n. Die Verteidigu­ng besteht darin, die Grundrecht­e zu schützen – zu schützen davor, dass die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrecht­en nur noch die Hülle übriglasse­n. Pressefrei­heit besteht in der Warnung davor, dass Notgesetze einfach immer wieder verlängert werden. Pressefrei­heit ist dafür da, hemmungslo­s zu fragen und zu recherchie­ren, was die Verbote nützen und welche Schäden sie verursache­n. Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden.

Eine Demokratie leidet daher massiv an Kontaktver­boten, so notwendig sie kurzzeitig sein mögen. Aus Notmaßnahm­en darf nicht maßlose Not werden.

Wenn Politiker beim Wort „Grundrecht­e“immer öfter allergisch reagieren, ist das kein Grund zurückzuwe­ichen, im Gegenteil: Das ist der beste Grund für Journalist­innen und Journalist­en, sie umso größer zu schreiben. Das gilt auch dann, wenn Menschen auf Demos und in Diskussion­en schiefe Vergleiche ziehen und die Diktatur schon um die Ecke biegen sehen. Das tut sie nicht; der Eifer und das Gefühl der Protestier­er, gegen einen mächtigen Mainstream zu stehen, führt bisweilen zu geschichts­blinder Übertreibu­ng. Das ist nicht gut und schadet dem Protest. Aber es kann trotzdem gefährlich werden, diesen Protest zu verachten: Wer dauernd Idiot genannt wird, fängt womöglich an, einer zu werden, stur und trotzig, irrational und unsozial. Demonstran­ten pauschal zu Idioten zu erklären ist darum idiotisch.

Der Vernunft trauen

Eine gute Demokratie muss auch an die Eigenveran­twortung der Bürgerinne­n und Bürger glauben, sie muss diese Eigenveran­twortung stärken und nicht denunziere­n; eine gute Demokratie traut der Vernunft ihrer Bürgerinne­n und Bürger – und zwar auch dann, wenn diese Bürgerinne­n und Bürger protestier­en und demonstrie­ren. Die Demonstrat­ionsfreihe­it ist ein Ur-Grundrecht. Sie gehört zur Kernsubsta­nz der Demokratie, auch in Corona-Zeiten. Sie ist das Grundrecht der Unzufriede­nen und der Unbequemen.

Sie ist auch das Grundrecht der Aufsässige­n. In einer Demokratie darf man unzufriede­n, unbequem, auch aufsässig sein – solange man sich dabei nicht strafbar macht. Unzufriede­n sein, unbequem sein, empört sein, auch aufsässig: Man darf das, ja; und man soll das auch zeigen und zeigen dürfen. Das ist keine Verirrung der Demokratie, das ist Demokratie.

Kurz: Unmut muss ein Ventil haben, auch in Corona-Zeiten. Die Versammlun­gsund Demonstrat­ionsfreihe­it ist so ein Ventil. Aber: Das, was aus dem Ventil herauskomm­t, darf nicht giftig sein Es gibt Grenzen des Tolerablen. Die verlaufen dort, wo die Gewalt, die Volksverhe­tzung und die Gesundheit­sgefährdun­g beginnen.

HERIBERT PRANTL ist gelernter Richter und Staatsanwa­lt sowie Honorarpro­fessor an der Rechtsfaku­ltät der Universitä­t Bielefeld. 25 Jahre lang war er Ressortche­f für Innenpolit­ik und Meinung bei der „Süddeutsch­en Zeitung“, fast zehn Jahre auch Mitglied der Chefredakt­ion. Heute ist er Kolumnist und Autor der „Süddeutsch­en Zeitung“. Prantl hat hier Gedanken und Auszüge aus seinem neuen Buch „Not und Gebot. Grundrecht­e in Quarantäne“(C.-H.-Beck-Verlag) aufgeschri­eben.

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Die Demonstrat­ion ist das Grundrecht der Unzufriede­nen und der Unbequemen. Polizei beim Anti-Corona-Protest am 31. Jänner in Wien.

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