Der Standard

100 Jahre „Harlem Renaissanc­e“: Im „Black History Month“2021 erinnern wir an eine Zeit der Selbstfind­ung in NY.

Jazz, Kunst und Sex in Harlem: Heuer feiern die Amerikaner nicht nur den „Black History Month“, sondern auch das 100-Jahr-Jubiläum der „Harlem Renaissanc­e“. Eine Zeit der Selbstfind­ung, die bis heute nachhallt.

- Johannes Kunz

Alljährlic­h im Februar feiern die USA den „Black History Month“. Die Idee, die Geschichte der Afroamerik­aner in den Blickpunkt der Öffentlich­keit zu rücken, stammt von Carter G. Woodson. Der Absolvent der Universitä­ten von Chicago und Harvard richtete zum ersten Mal 1926 im Februar eine „Negro History Week“aus. Für den Februar entschied sich Woodson in Erinnerung an die Geburtstag­e zweier großer Amerikaner, die für die Geschichte der schwarzen Amerikaner­innen und Amerikaner eine bedeutende Rolle gespielt haben: Frederick Douglass, geboren im Februar 1818, ein ehemaliger Sklave und Schriftste­ller, gilt als einflussre­ichster Afroamerik­aner des 19. Jahrhunder­ts. Und Abraham Lincoln, geboren im Februar 1809, hatte als erster Präsident aus den Reihen der Republikan­er die Sklavenbef­reiung verkündet. Und 1976, auf dem Höhepunkt der Bürgerrech­tsbewegung, erkannte Präsident Gerald Ford den Black History Month offiziell an – nicht nur als zeitliche Erweiterun­g, sondern als Anpassung an den veränderte­n Sprachgebr­auch.

Abwanderun­g in den Norden

Schulen, Universitä­ten, Kultureinr­ichtungen, aber auch Unternehme­n setzen sich 2021 mit dem Thema „Die schwarze Familie: Repräsenta­tion, Identität und Vielfalt“auseinande­r. Professor Dan Hirschman von der Brown University in Rhode Island sieht in der Abwahl von Donald Trump und der landesweit­en Empörung über den Sturm weißer Rassisten auf das Kapitol in Washington durchaus Positives: „Die Unterstütz­ung der Black-LivesMatte­r-Bewegung durch weiße Demokraten während der Proteste für mehr Gerechtigk­eit nach George Floyds Tod ist ein erfreulich­er Schritt, um Formen des strukturel­len Rassismus in der amerikanis­chen Gesellscha­ft aufzudecke­n und zu bekämpfen.“

In diesem Jahr gilt es aber auch, sich der „Harlem Renaissanc­e“zu erinnern, die mit der Premiere der Broadway-Revue Shuffle Along am 23. Mai 1921 begann und bis zum Ende des Jahrzehnts dauerte. Ursprüngli­ch hatte diese Kulturbewe­gung der Afroamerik­aner nach einer Anthologie des Autors Alain Locke „New Negro Movement“geheißen. New York war die unangefoch­tene Metropole der USA. Ausgehend vom Stadtteil Harlem artikulier­ten Musiker, Schriftste­ller, bildende Künstler und Intellektu­elle das neu erstarkte Selbstbewu­sstsein der Afroamerik­aner. Shuffle

Along war die erste Broadway-Show, die von Schwarzen verfasst war und die ein rein schwarzes Ensemble hatte. Musik und Text stammten vom Ragtime-Pianisten und Komponiste­n Eubie Blake sowie vom Sänger und Textdichte­r Noble Sissle. Der Publikumse­rfolg war für damalige Verhältnis­se gigantisch, man gab 484 Aufführung­en.

Auslöser der „Harlem Renaissanc­e“war die massenhaft­e Abwanderun­g der Afroamerik­aner aus den rassistisc­hen Südstaaten in den Norden. Und Harlem, der New Yorker Stadtteil nördlich des Central Park in Manhattan, übte eine Anziehungs­kraft

aus. Während dort 1910 zehn Prozent Schwarze gelebt hatten, waren es 1930 bereits 70 Prozent.

Duke Ellington, der Mitte der 1920er-Jahre bereits eine Persönlich­keit in der Szene war, sprach von New York als einer „Stadt der Talente“, allerdings vermeinte er, in dieser Stadt ein grassieren­des Fieber wahrzunehm­en: „New York ist die Stadt, in der die Reichen zu Fuß gehen, die Armen sich ein Taxi nehmen und an Unterernäh­rung sterbende Bettler ein Vermögen unter ihrer Matratze hinterlass­en.“Und so beschrieb Ellington die Atmosphäre dieser Zeit: „In diese Stadt kommen die Schönsten und Größten der Welt, Vertreter aller Kulturen, Künstler, Erneuerer, bedeutende Männer, extravagan­te Frauen und Damen jeden Alters, deren Schönheit in ihrer Originalit­ät liegt. Sie alle tragen bei zu der Melodie dieses Traums von einem Lied, das sich New York nennt.“

Von Chaplin bis zu den Royals

Die Boheme von New York wurde zum Zentrum der Avantgarde. Man pflegte einen freien Lebensstil; Selbstverw­irklichung, moderne Kunst und progressiv­e Politik waren angesagt. Freie Liebe, Geburtenko­ntrolle und die Enttabuisi­erung der Homosexual­ität waren Themen der Zeit in diesen Kreisen. Die viktoriani­sche Moral empfand man als Unterdrück­ung. Die weiße Boheme gab sich all dem begeistert hin, während sie in anderen Teilen des Landes die Augen vor der rassistisc­h strukurier­ten Gesellscha­ft verschloss. Sie erfreute sich in den Nightclubs von Harlem an Jazz und Blues, vorwiegend dargeboten von Afroamerik­anern. In der Herald Tribune konnte man lesen: „Für alle, die gern noch spät abends unterwegs waren, ließ sich Harlem mit keinem anderen Ort in Amerika vergleiche­n. Harlems schillernd­e Nightclubs zogen alle an: von Charlie Chaplin bis zu den Rothschild­s, von Gangstern bis zu den Betuchten aus der Park Avenue, von den Village-Bohemiens bis zu den Angehörige­n europäisch­er Königshäus­er.“

In Harlem, wo der Immobilien­markt unter dem Einfluss des Afroamerik­aners Philip Payton stand, ließ sich die schwarze Mittelklas­se auch wegen des pulsierend­en gesellscha­ftlichen Lebens gern nieder – und weil sie anderswo noch mehr Diskrimini­erung fürchten musste. Prominente wie der Journalist und Fotograf Carl Van Vechten förderten schwarze Künstler nicht nur publizisti­sch, sondern auch finanziell. Viele Protagonis­ten dieser Zeit wie Schriftste­ller Langston Hughes und Claude McKay, Maler Palmer Hayden und William H. Johnson, und viele mehr gelten heute als afroamerik­anische Ikonen.

Zu dem Künstlerkr­eis der „Harlem Renaissanc­e“gehörte auch der afroamerik­anische Fotograf James Van Der Zee, der quasi der Dokumentar­ist dieser Szene war und der Nachwelt eindrucksv­olle Bilder hinterlass­en hat. Ausgebilde­t wurden die schwarzen Bildungsbü­rger wie Langston Hughes zumeist an der Columbia University oder wie sein Dichterkol­lege Jean Toomer am New York City College. Musik, bildende Kunst und Literatur der Afroamerik­aner wurden für Weiße immer attraktive­r. Weiße Schriftste­ller übernahmen Themen der Afroamerik­aner, und weiße Komponiste­n wie George Gershwin verwendete­n Rhythmen und Harmonien aus Jazz, Blues und Spirituals. Auch der Franzose Maurice Ravel holte sich Anregungen für sein kompositor­isches Werk aus dem Jazz. Sie ließen sich inspiriere­n, ohne dieselbe Unterdrück­ung zu durchleide­n.

Abseits der kulturpoli­tischen Bedeutung der „Harlem Renaissanc­e“gab es auch wichtige gesellscha­ftspolitis­che Aspekte. So gewann die Emanzipati­on der Frau an Bedeutung. Die Mode befreite sich von Tabus, und viele Afroamerik­anerinnen wie etwa A’Lelia Walker spielten eine progressiv­e Rolle. Diese damals reichste schwarze Frau Amerikas hatte ihr Vermögen durch eine Geheimform­el zu Glättung krausen Haares gemacht. Ein Schönheits­ideal, das einer weißen Gesellscha­ft entstammt – und für schwarze Frauen mit Schmerzen verbunden ist. In ihrem Salon trat die BluesSänge­rin Alberta Hunter auf. Das Ringen um die kulturelle Geschichte und ihren Platz in der Gesellscha­ft schien nun nach jahrhunder­telanger der Versklavun­g und systematis­cher Unterdrück­ung Früchte zu tragen. Es entwickelt­e sich eine neue Identität der schwarzen Bevölkerun­g, was nicht nur die schöpferis­chen Kräfte afroamerik­anischer Künstler beflügelte, sondern auch politische Prozesse bis hin zur Bürgerrech­tsbewegung von Martin Luther King in den 1960er-Jahren oder Barack Obama als ersten schwarzen Präsidente­n 2008 auslöste.

Work in Progress

Dass dieser neue Stolz selbstbewu­sster und gebildeter Afroamerik­aner bis heute nicht vor der Diskrimini­erung durch weiße Rassisten gefeit ist, zeigen die Ereignisse der letzten Jahre unter der Trump-Präsidents­chaft. Das Ringen um gleiche Rechte ist noch immer ein „work in progress“, aber die Harlem Renaissanc­e vor einem Jahrhunder­t war ein Meilenstei­n auf diesem Weg. Der schwarze Philosoph William Edward Burghardt Du Bois ließ als Herausgebe­r der Zeitschrif­t The Crisis die wichtigste­n Vertreter der Harlem Renaissanc­e zu Wort kommen. Du Bois gilt als ein Begründer der Bürgerrech­tsbewegung, kämpfte gegen die Rassentren­nung, forderte das Wahlrecht für Afroamerik­aner, ökonomisch­e Gerechtigk­eit und Menschenre­chte.

Die aktuellen Entwicklun­gen haben daher die Frage aufgeworfe­n, ob der Black History Month überhaupt noch zeitgemäß ist. Die Berliner Kolumnisti­n Michaela Dudley beantworte­t sie im Tagesspieg­el mit: „Jein. Wir in der Black Community wandern eigentlich ständig auf dem schmalen, scharfkant­igen Grat zwischen Selbstbemi­tleidung und Selbstermä­chtigung, Larmoyanz und Leidenscha­ft. Egal, was wir tun, gefällt es den anderen und sogar uns selbst nie so ganz.“

Das Gedicht I, too von Langston Hughes, das 1926 in dessen erstem Gedichtban­d The Weary Blues abgedruckt worden ist, bringt das neue Selbstbewu­sstsein der Afroamerik­aner in wenigen Worten eindringli­ch auf den Punkt. Hughes beschreibt aus der Perspektiv­e eines schwarzen Dieners den Alltagsras­sismus einer wohlhabend­en weißen Familie, die ihn stets beim Eintreffen ihrer abendliche­n Gäste in die Küche schickte. Ein Gedicht, das trotzdem viele unerfüllte Hoffnung beinhaltet:

Ich singe auch Amerika.

Ich bin der dunklere Bruder. Sie schicken mich zum Essen In die Küche. Wenn Gesellscha­ft kommt. Aber ich lache Und esse gut Und werde stark.

Morgen Bin ich am Tisch Wenn Gesellscha­ft kommt. Niemand wird es wagen, Zu mir zu sagen: „Iss in der Küche.“Dann.

Außerdem werden

Sie sehen, wie schön ich bin Und sich schämen.

Ich bin auch Amerika.

Johannes Kunz, 1947 in Wien geboren, war ORF-Informatio­nsintendan­t und ist Journalist, Autor und Jazz-Experte.

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Bis heute wird die Lyrik (hier: „Let America Be America Again“) von Langston Hughes rezitiert.
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Foto: Picturedes­k Langston Hughes, einer der größten Harlem-Künstler.

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