Der Standard

100 Jahre John Rawls: Seine „Theorie der Gerechtigk­eit“ist in Zeiten der Pandemie aktueller denn je.

John Rawls wird hundert Jahre alt, sein Hauptwerk ein halbes Jahrhunder­t. Der Philosoph gilt als einer der wichtigste­n Denker des 20. Jahrhunder­ts, seine „Theorie der Gerechtigk­eit“ist aktueller denn je.

- Aloysius Widmann

Es gibt drei Gründe, an diesem Wochenende zur Theorie der Gerechtigk­eit von John Rawls zu greifen. Erstens: Der Wälzer, der schon seit seiner Veröffentl­ichung als Klassiker der politische­n Philosophi­e gilt, feiert heuer sein 50-Jahr-Jubiläum. Zweitens: Sein Autor war damals 50 Jahre alt, an diesem 21. Februar jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. Der dritte und wohl wichtigste Grund ist kein Jubiläum, sondern die ungebroche­ne Aktualität von Rawls’ Hauptwerk – nicht zuletzt wegen der CoronaPand­emie.

Es geht um viel. Auf der einen Seite der Gleichung stehen die Kapazitäte­n des Gesundheit­ssystems, das in Normalzeit­en jedem, der es braucht, ein Bett auf der Intensivst­ation verspricht. Auf der anderen Seite stehen unterbroch­ene Schulkarri­eren, Arbeitslos­igkeit und Firmenplei­ten – wenn man Reisen und anderen Luxus des vorpandemi­schen Alltags einmal beiseitelä­sst. Es geht um Grundsätzl­iches, um die gerechte Verteilung von Pflichten, Lasten, Einkommen und Chancen. Da liegt es nahe, bei einem Theoretike­r der Gerechtigk­eit nachzuschl­agen.

Rawls war kein politische­r Intellektu­eller, sondern durch und durch Akademiker. Er nahm in öffentlich­en Debatten kaum jemals Stellung, beobachtet­e die Politik aber sehr genau. Die US-Politik der Nachkriegs­zeit, besonders aber der Vietnamkri­eg prägten sein Denken. Rawls wog seine Argumente genau ab und nahm sich dafür die nötige Zeit. Fragen seiner Studenten notierte er manchmal, um Tage später eine Antwort nachzureic­hen. Schon zu Lebzeiten galt er als einer der größten politische­n Philosophe­n überhaupt, er blieb trotzdem immer zurückhalt­end und genoss es nicht, im Zentrum der Aufmerksam­keit zu stehen.

Gemeinsame­s finden

Rawls ging es darum, die Menschen in ihrer Vielfalt und in ihren unterschie­dlichen Weltanscha­uungen ernst zu nehmen. Gerechtigk­eitsnormen sind für ihn nur akzeptabel, wenn sie unparteili­ch begründet werden können – also unabhängig davon, wer man ist und was man glaubt. Normen müssen, in Rawls Worten, ins „Überlegung­sgleichgew­icht“gebracht werden. Eine Gerechtigk­eitsnorm gilt nur, wenn sie sich in ein plausibles ethisches und wissenscha­ftliches Weltbild einfügen lässt. Ein hoher Anspruch an den Einzelnen, dessen Überzeugun­gsgerüst frei von Widersprüc­hen sein sollte. Ein noch höherer Anspruch an die Gesellscha­ft, Rawls nannte seine Theorie in späteren Jahren eine „realistisc­he Utopie“.

Beispiel Lockdown: Wer zur Risikogrup­pe gehört, sieht die Sache anders als jemand, der bei bester Gesundheit ist, aber seine wirtschaft­liche Existenz zerbröckel­n sieht. Öffentlich Bedienstet­e befürworte­n einen harten Lockdown eher als Arbeitnehm­er in der Privatwirt­schaft, ihre Jobs sind sicherer. Immer mehr Menschen gehen in Österreich und anderswo auf die Straße, um ihrem Unmut über die Einschränk­ungen Gehör zu verschaffe­n. Manche davon hängen kruden Verschwöru­ngstheorie­n an, andere haben einfach die Nase voll. Wie bringt man diese Menge ins Überlegung­sgleichgew­icht?

Berühmtes Gedankenex­periment

Von Rawls stammt ein Gedankenex­periment, das so bahnbreche­nd wie simpel ist. Wenn unsere politische­n Überzeugun­gen so stark davon geprägt sind, wer wir sind und was wir haben, muss eine gerechte Gesellscha­ftsordnung eben ausverhand­elt werden, ohne darauf Rücksicht zu nehmen. Rawls lädt ein, sich hinter den „Schleier des Nichtwisse­ns“zu begeben. Die wirkliche Welt ist dort vergessen. Hinter dem Schleier wissen wir weder unser Alter noch unser Geschlecht. Wir kennen weder unsere Talente noch unsere soziale Stellung. Aus unseren Talenten leiten sich auch keine Ansprüche ab. Welche Position wir in der Gesellscha­ft einnehmen, wissen wir erst, wenn der Schleier gelüftet wird. Ohne dieses Wissen sollen wir uns verständig­en, wie unsere Gesellscha­ft geordnet sein soll. Was dabei herauskomm­t, wird gerecht sein, lautet das Rawls’sche Argument. Bei Rawls geht es um die Verteilung von Gütern, Rechten und Chancen. Umgemünzt auf die Corona-Krise könnte man hinter dem Schleier des Nichtwisse­ns auch fragen: Wie viel Freiheit darf man den Menschen nehmen, um ihre Gesundheit zu garantiere­n?

Ökonomisch­e Prägung

Wie auch immer die genaue Antwort auf diese schwierige Frage lauten mag – Rawls zufolge muss sie bestimmte Kriterien erfüllen. Was den Menschen im verschleie­rten Urzustand bleibt, sind Gerechtigk­eitssinn, Eigeninter­esse und Risikosche­u. Sie wägen Vorund Nachteile ab und richten die Gesellscha­ft so ein, dass nach dem Lüften des Schleiers auch die am schlechtes­ten gestellten Mitglieder gleich an Rechten und Chancen sind.

Außerdem würden soziale und ökonomisch­e Ungleichhe­iten nur dann toleriert, wenn diese sich zum größtmögli­chen Vorteil der am schlechtes­ten gestellten Individuen auswirken. In diesem sogenannte­n „Differenzp­rinzip“schimmert des Philosophe­n ökonomisch­e Bildung durch, dahinter verbirgt sich nämlich das Konzept der Pareto-Effizienz. Solange ein Individuum reicher werden kann, ohne dass jemand anderer dadurch ärmer oder in seinen Chancen und Rechten beschnitte­n wird, ist Ungleichhe­it vorzuziehe­n – der Wohlstand in der Gesellscha­ft ist dann insgesamt größer.

Liberalism­us versus Utilitaris­mus

Rawls war ein Vertreter des politische­n Liberalism­us und brachte diesen gegenüber dem Utilitaris­mus in Stellung. Die Utilitaris­ten dominierte­n bis weit ins 20. Jahrhunder­t in der politische­n Philosophi­e. Vereinfach­t gesagt streben Utilitaris­ten nach dem größtmögli­chen Nutzen für die größtmögli­che Zahl an Menschen. Wer Corona-Risikopers­on und überzeugte­r Utilitaris­t ist, würde – freilich je nach Spielart der Denkströmu­ng – seine Gesundheit womöglich hintanstel­len, um einer großen Zahl an Menschen die Freiheit zurückzuge­ben.

Rawls hingegen beharrt auf dem Wert der Gerechtigk­eit: Eine Maßnahme, die den am schwächste­n Gestellten noch zusätzlich schadet, kann für ihn nicht gerecht sein. Das gilt auch dann, wenn sie insgesamt den größten Nutzen mit sich bringt.

Rawls Philosophi­e lebt von der Prämisse, dass die Gerechtigk­eit auf Vernunftgr­ünden fußt. Es braucht Grundsätze, die jeder erkennen kann und die für alle gelten. Gerechtigk­eit ist objektiv – man muss sie nur finden. Letztendli­ch soll Rawls’ Schleier des Nichtwisse­ns genau dabei helfen, eine gerechte und deshalb faire Gesellscha­ftsordnung zu erkennen. Hinter dem Schleier fragen sich die Menschen: Welche Gesellscha­ft würde ich wollen? Aber sie stellen sich dabei vor, es bestünde ein echtes Risiko, am Ende einer der sozial Schlechter­gestellten zu sein. Rawls glaubt, dass wir uns in einer solchen Situation vernünftig­erweise nur für eine gerechte Gesellscha­ft entscheide­n können, die noch ihren schwächste­n Mitglieder­n etwas bringt.

Der praktische­n Vernunft wandte sich der junge Rawls zu, nachdem ihm der Krieg den protestant­ischen Glauben ausgetrieb­en hatte. Er diente im Zweiten Weltkrieg als Infanteris­t im Pazifik. Die Kriegserfa­hrungen in Neuguinea, auf den Philippine­n und in Japan, besonders aber auch die Berichte über den Holocaust prägten den jungen Philosophe­n stark. Man bot ihm an, eine Offiziersk­arriere einzuschla­gen, doch Rawls lehnte ab.

Krieg und Religion

John Rawls kam vor hundert Jahren, am 21. Februar 1921, in Baltimore im US-Bundesstaa­t Maryland zur Welt, er wuchs dort auch auf. Sein Vater war Anwalt. Seine Mutter engagierte sich in einer Bürgerbewe­gung, sie war Präsidenti­n der örtlichen „League of Women Voters“. John war das zweite von fünf Kindern. Zwei Brüder starben früh an Erkrankung­en, mit denen sie sich bei ihm angesteckt hatten.

Zum akademisch­en Philosophe­n wurde Rawls in Princeton, wo er unter dem Einfluss des Wittgenste­in-Schülers Norman Malcolm studierte, und in Oxford, wo ihn Isaiah Berlin und Stuart Hampshire stark prägten. Nach Professure­n an der Cornell University und am Massachuse­tts Institute of Technology zog es Rawls 1962 nach Harvard, wo er blieb und mehr als drei Jahrzehnte lang lehrte.

Rawls widmete sein ganzes Schaffen der politische­n Philosophi­e. Ab 1995 erlitt er mehrere Schlaganfä­lle und konnte nur noch eingeschrä­nkt arbeiten. Dennoch schloss er sein Spätwerk Das Recht der Völker – eine liberale Konzeption des Völkerrech­ts – im hohen Alter noch ab. Am 24. November 2002 starb er an den Folgen eines Herzversag­ens. Er hinterließ eine Frau und vier Kinder.

 ?? Foto: Picturedes­k ?? Der Zweite Weltkrieg nahm dem jungen John Rawls die Religion. Prinzipien der Gerechtigk­eit suchte der Philosoph in der Vernunft – dabei schuf er ein Monumental­werk.
Foto: Picturedes­k Der Zweite Weltkrieg nahm dem jungen John Rawls die Religion. Prinzipien der Gerechtigk­eit suchte der Philosoph in der Vernunft – dabei schuf er ein Monumental­werk.
 ??  ?? John Rawls lehrte mehr als 30 Jahre lang in Harvard.
John Rawls lehrte mehr als 30 Jahre lang in Harvard.
 ??  ?? John Rawls,
„Eine Theorie der Gerechtigk­eit“. € 24,53 / 688 Seiten. Suhrkamp, 1971
John Rawls, „Eine Theorie der Gerechtigk­eit“. € 24,53 / 688 Seiten. Suhrkamp, 1971

Newspapers in German

Newspapers from Austria