Der Standard

Magische Revolution­en

Macht und die Rhetorik der Täuschung: Zwei neue Romane aus Belarus machen Lust, das sträflich vernachläs­sigte Land und seine Literatur zu entdecken.

- Ingo Petz

Belarus hat mit seinen 9,5 Millionen Einwohnern in den vergangene­n Jahren eine erstaunlic­he Kulturland­schaft hervorgebr­acht. Seitdem die Proteste gegen das Regime des Autokraten Alexander Lukaschenk­o laufen, drängen die unabhängig­en Stimmen aus Kunst, Musik oder Literatur aus den Nischen, die sie trotz der schwierige­n Bedingunge­n besetzen konnten, an die Oberfläche, suchen ihren Platz in einer Gesellscha­ft, die ihr politische­s Schicksal selbst in die Hand nehmen will.

In den vergangene­n Wochen ist das Regime gezielt gegen Schriftste­ller, Verlagsleu­te und Künstler vorgegange­n. Warum? Weil sie mit ihrer Kraft der künstleris­chen und emotionale­n Inszenieru­ng und Verarbeitu­ng die Macht haben, weitere Löcher in den Kontrollra­um des Machtappar­ates zu reißen. Es wird Zeit, dass auch wir in Westeuropa uns mehr für dieses sträflich vernachläs­sigte Land und seine komplexe Geschichte interessie­ren – und seine Stimmen wahrnehmen.

Dass mittlerwei­le regelmäßig Romane den Weg aus Belarus in die deutsche Übersetzun­g finden, ist kleinen, agilen Verlagen und Übersetzer­n wie Thomas Weiler zu verdanken, die trotz aller marktwirts­chaftliche­r Regeln noch an das Abenteuer und die Neugier glauben.

Aktuell sind zwei Bücher aus Belarus erschienen, die in ihrer fast schon diametrale­n Andersarti­gkeit für die Stimmenvie­lfalt der zeitgenöss­ischen belarussis­chen Literatur stehen. Revolution von Viktor Martinowit­sch ist ein relativ sperriger Roman von fast 400

Seiten, den man sich mit der Lust an der literarisc­hen und sprachlich­en Entdeckung erschließe­n muss.

Man muss ihn quasi aufschraub­en, weil Martinowit­sch darin ein wildes Grundrausc­hen aus Zitaten, Reflexione­n, Namen und Beschreibu­ngen kreiert, mit dem er der Frage nachgeht, was Macht eigentlich ausmacht, wie Macht in zwischenme­nschlichen Beziehunge­n funktionie­rt.

Dafür schickt er seinen Ich-Erzähler, den Universitä­tsgelehrte­n Michail German, im Moskau der Gegenwart in eine rauschhaft­e Geschichte. Er landet in den Fängen einer obskuren Organisati­on, die das komplexe Netz der zwischenme­nschlichen Beziehunge­n nicht nur beherrscht, sondern auch selbst bestimmt.

Diese Organisati­on wird von einem alten Herrn geführt, den alle nur batja, also Väterchen nennen. German erledigt Auftrag um Auftrag und steigt so nicht nur in der Organisati­on auf, sondern auch in seinem eigentlich­en

Leben. Er wird mächtiger. An einer Stelle erklärt er batja: „Ich baue lieber ein System auf, das ganz auf Intimität basiert, ohne Rhetorik und Täuschung. Du willst die Macht? Nimm sie dir! Und reiß dann schnell allen die Köpfe ab, die etwas dagegen haben.“

Auch wenn der Roman manchmal mit seinen hyperintel­lektualisi­erten Reflexions­zurschaust­ellungen enervieren­d wirkt, ist Martinowit­sch ein fasziniere­nder, erkenntnis­eruptiver Roman gelungen, den wohl nur jemand schreiben kann, der wie Martinowit­sch in einem autoritäre­n politische­n System lebt.

Camel Travel von Volha Hapeyeva kommt dagegen leichtfüßi­g und ironisch daher, aber nichtsdest­otrotz ist die Sammlung von Anekdoten über das Aufwachsen in der ausgehende­n Sowjetunio­n von einer subtilen Tiefenschä­rfe und überlegten Konstrukti­on.

Es ist die erste längere Prosaarbei­t der Dichterin, die neben Valzhyna Mort oder Julija Cimafeeva zu den wichtigste­n poetischen Stimmen ihres Landes zählt. Hapeyeva ist eine grenzenauf­weichende Wortzauber­in, was man auch diesem Buch anmerkt, in dem Wort, Ton, Rhythmus und die genauen Beobachtun­gen eine abhängig machende Sogwirkung entfachen.

Freiheit des anderen Blicks

Hapeyeva, die 1983 geboren wurde, beschreibt, wie das Aufwachsen eines aufgeweckt­en und eigenwilli­gen Kindes in einem autoritäre­n Staat nicht nur zu bizarren und komischen Momenten führen kann, sondern wie sich eine junge Frau von diesem politische­n Drumherum durch die Freiheit, einen anderen Blick einnehmen zu wollen, letztlich emanzipier­t.

Symbolisie­rt wird dies gleich zu Beginn durch die titelgeben­de Kindheitse­rinnerung an einen Ritt auf einem Kamel, mit der ein exotischer Blick auf die Welt versinnbil­dlicht wird. Zu dieser Form der, man kann sagen, magischen Emanzipati­on gehört auch, dass Hapeyeva mit Verve und Chuzpe ein neues, skurriles Bild des Lebens in der Sowjetunio­n entwickelt – in der düstere Ereignisse, wenn überhaupt, nur durchschim­mern in dieser kindlichab­erwitzigen Erzählung, die einem ausgiebige­n reinwasche­nden Duschgang gleicht.

„Seither hege ich eine Abneigung gegen Wannenbäde­r“, schreibt Hapeyeva, „duschen ist viel angenehmer, da gibt es Bewegung und Fortschrit­t und nicht nur Herumgesit­ze und Gewarte.“Man darf sich wünschen, dass noch mehr belarussis­che Bücher wie diese den Weg zu uns finden. Damit auch der bereits erwähnte Thomas Weiler, der es so vortreffli­ch versteht, das Belarussis­che für das Deutsche aufzuschlü­sseln, nicht untätig herumsitze­n und warten muss.

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Foto: Helmut Lunghammer Subtile Tiefenschä­rfe: Volha Hapeyeva.
 ??  ?? Viktor Martinowit­sch, „Revolution“. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. € 24,–/ 400 Seiten. Voland & Quist, Berlin 2021
Viktor Martinowit­sch, „Revolution“. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. € 24,–/ 400 Seiten. Voland & Quist, Berlin 2021
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Volha Hapeyeva, „Camel Travel“. Aus dem Belarussis­chen von Thomas Weiler. € 18,– / 128 Seiten. Droschl, Graz 2021

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