Der Standard

Umgekehrte Immigranti­n

Die Fremde: Claudia Durastanti­s autobiogra­fisches Buch über das Aufwachsen in mehrfach verwirrend­en Umständen.

- Michael Freund

Manchmal stößt man in Büchern auf einen Satz, der den Inhalt wie in einem Brennglas einfängt. Zum Beispiel dieser: „Die Geschichte einer Familie ähnelt eher einer topografis­chen Landkarte, und eine Biografie ist die Summe aller geologisch­en Zeitalter, durch die du gegangen bist.“

Der Satz steht in Die Fremde, dem neuen Buch der italienisc­hen Autorin und Übersetzer­in Claudia Durastanti.

La straniera im Original, was auch Ausländeri­n heißt, und „strano“bedeutet zudem merkwürdig, seltsam. Als all das sieht sich Durastanti, in der IchForm erzählt sie von einer Existenz in wechselnde­n Topografie­n, physischen und geistigen, in die sie hineinfind­en muss, ohne heimisch zu werden, und so präzise wie spannend rollt sie die Ursachen dafür auf.

Das Buch beginnt damit, wie sich ihre Eltern in Rom kennenlern­ten – sie hielt ihn davon ab, in den Tiber zu springen, das verband sie sofort und etwas anderes noch dazu: Sie waren beide gehörlos. Als die Erzählerin 1984 geboren wurde, war ihre Mutter bereits geschieden und zu Verwandten nach Brooklyn gezogen. Was es bedeutet, in einer verwirrend­en italoameri­kanischen Umgebung aufzuwachs­en, aufgezogen von einer Frau, die in ihrer eigenen Welt lebte, darüber schreibt Durastanti manchmal amüsiert, oft mit analytisch­er Schärfe. Sie war sechs, als die Mutter mit ihr und ihrem Bruder in die archaische, anarchisch­e Basilikata in Süditalien zog.

Hier wurde sie zur „umgekehrte­n Immigranti­n“, zu einer Außenseite­rin, die zunächst weder mit der Mutter zurechtkam noch mit dem Vater, den sie manchmal sah und der, ebenfalls in einer Fantasiewe­lt lebend, sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug. In der Schule wurde sie ausgelacht, weil sie die Wörter durcheinan­derbrachte. Trost boten ihr ähnlich am Rand Stehende. Literatur, schreibt sie, habe ihr schließlic­h eine andere Welt eröffnet, Bücher hätten sie gerettet.

Familienge­ologie

Die Fremde, der vierte Roman von Durastanti, ist nicht so sehr lineare Autobiogra­fie als vielmehr eine Meditation über die Schichten ihres Coming of Age, die sie abträgt, eben mehr Geologie als Chronologi­e. Es ist ein gedanklich­es Labyrinth der ehrgeizige­n Ziele, die sie sich setzt, auch erreicht und damit zu den Privilegie­rten zählen wird, und der Ängste, die sie trotzdem quälen.

Typisch dafür ist eine weitere Emigration, nach London, „aus falschen Gründen (...) mit der romantisch­en Vorstellun­g vom Punk und der täglichen urbanen Apokalypse“. Zwischendu­rch ufert ihr Gedankenst­rom zu eigenen Essays aus, klarsichti­g schreibt sie über den Einfluss von Filmen und Musik auf ihre Generation; über Drogen; über Liebesgesc­hichten, die sich selbst erfüllende Prophezeiu­ngen sind, „und wenn keine Vorzeichen da sind, muss man sie erfinden, damit alles bedeutend wird“; über Liebe, die unversehrt bleibt, wenn alles bricht.

Vor allem reflektier­t sie darüber, was „Behinderun­g“bedeutet. Sie versucht, die taube Mutter – die vielleicht die eigentlich Fremde im Buch ist – in jedem Sinn des Wortes zu verstehen und damit sich ihr anzunähern: „Als meine Mutter zum ersten Mal eine ironische Bemerkung verstand, war sie fünfundfün­fzig, mein Bruder und ich haben sie erstaunt angesehen. Es war eine neue Erfahrung, ein Gefühl großer Dankbarkei­t.“

Die Übersetzer­in navigierte souverän durch italoameri­kanisches Sprachgewi­rr und Dialektfor­mulierunge­n.

Sie suchte das Original, wo Durastanti übersetzt hatte, etwa die Zitate angelsächs­ischer Autoren oder Zeilen aus einem Song von R.E.M. Sie erkannte auch den Filmtitel Lethal Attraction in der sehr anderen italienisc­hen Kapitelübe­rschrift und verwendete ihn sinnstifte­nd im deutschen Text. (Eine „famiglia novecentes­ca“allerdings ist aus dem 20., nicht dem 19. Jahrhunder­t, und die italienisc­he Linke, die „stava sparendo“, hat nicht geschossen, sondern war am Verschwind­en. Kann passieren.)

„Was nicht auf unseren Grabsteine­n stehen wird“, schreibt Durastanti, „ist unsere Entfernung von daheim.“Nicht dazugehöre­n – in dem Wort steckt, verallgeme­inert, das Schicksal ihrer Familie. Dass Menschen auf verschiede­ne Weisen immer häufiger marginal bleiben und Nomaden werden, das macht das sehr lesenswert­e Buch auch noch zu einem aktuellen Autodafé.

 ??  ?? Claudia Durastanti, „Die Fremde“. Aus dem Italienisc­hen von Annette Kopetzki. € 24,70 / 302 Seiten. Zsolnay, Wien 2021
Hinweis: Das Buch wird am 26. 2. im „Literarisc­hen Quartett“besprochen, ZDF, 23.30 Uhr.
Claudia Durastanti, „Die Fremde“. Aus dem Italienisc­hen von Annette Kopetzki. € 24,70 / 302 Seiten. Zsolnay, Wien 2021 Hinweis: Das Buch wird am 26. 2. im „Literarisc­hen Quartett“besprochen, ZDF, 23.30 Uhr.

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