Der Standard

Was bleibt von der Freizügigk­eit?

Grenzkontr­ollen innerhalb der EU sollten die Ausnahme sein. Oft sind sie ein politische­s Heimspiel. Die Maßnahmen an der österreich­isch-deutschen Grenze sind faktisch Grenzschli­eßungen und daher rechtlich besonders fragwürdig.

- Werner Schroeder WERNER SCHROEDER ist Universitä­tsprofesso­r und Leiter des Instituts für Europarech­t und Völkerrech­t an der Universitä­t Innsbruck.

Der EU-Binnenmark­t ist laut den EU-Verträgen ein „Raum ohne Binnengren­zen“, in dem der freie Personenve­rkehr gewährleis­tet ist. Um in diesem Raum die Reisefreih­eit zu erleichter­n, haben die EU-Staaten mit dem Schengener Übereinkom­men von 1985 beschlosse­n, ihre Grenzkontr­ollen abzuschaff­en. 1999 wurden die Schengen-Regeln in das EU-Recht integriert. Seitdem dürfen Personen unabhängig von ihrer Staatsange­hörigkeit beim Überschrei­ten der Binnengren­zen der EU-Staaten grundsätzl­ich nicht mehr kontrollie­rt werden. Dafür wird eine Personenko­ntrolle an den Außengrenz­en der Europäisch­en Union durchgefüh­rt.

Was ist aus diesem Anspruch geworden? Wenn man als Europäer die Situation der österreich­isch-deutschen Grenzen betrachtet, kann man schwermüti­g werden. Seit 2015 werden hier ununterbro­chen Grenzmaßna­hmen praktizier­t. Mal sind geflüchtet­e Menschen oder terroristi­sche Bedrohunge­n hierfür der Anlass, mal ist es ein Virus oder seit letzter Woche dessen Mutation. Immer wieder findet sich eine Begründung, um Pendler oder Reisende zu kontrollie­ren oder ihnen gar die Einreise zu verweigern und auf diese Weise ein grenzenlos­es Europa zu verhindern. Das EU-Recht wird dabei nicht immer eingehalte­n.

Politische­s Heimspiel

In Deutschlan­d etwa bestellt der bayerische Ministerpr­äsident in einem politische­n Heimspiel regelmäßig Grenzkontr­ollen, die von seinem Parteifreu­nd, dem Bundesinne­nminister, stets prompt genehmigt werden. Ebenso hat Österreich, das nun Corona-bedingte Grenzschli­eßungen durch Deutschlan­d beklagt, selbst gerne unter großzügige­r Auslegung des EU-Rechts seine eigenen östlichen Grenzen kontrollie­rt. Auch andere Staaten wie Frankreich und Dänemark haben kreativ von den Ausnahmen Gebrauch gemacht, die der Schengener Grenzkodex für zeitlich begrenzte Personenko­ntrollen an den nationalen Grenzen aus Gründen der öffentlich­en Ordnung und Sicherheit vorsieht.

Durch diese Kontrollen aber wird der freie Verkehr im Binnenmark­t und damit der Kern des europäisch­en Einigungsp­rojekts massiv beeinträch­tigt. Die EU-Kommission hat dieser Entwicklun­g dennoch leider weitgehend tatenlos zugesehen.

Die aktuellen Einreisebe­schränkung­en, die Deutschlan­d an den Grenzen zu den „Hochinzide­nzgebieten“Tirol und Tschechien mit Blick auf die dortige Verbreitun­g von Covid-Mutationen eingeführt hat, greifen nun noch stärker in die europäisch­e Freizügigk­eit ein. Sie gehen über normale Grenzkontr­ollen hinaus, die EU-rechtlich vergleichs­weise einfacher zu rechtferti­gen sind. Da es lediglich sehr begrenzte Ausnahmen für Berufspend­ler gibt, die zudem einen amtlichen Passiersch­ein benötigen, führen die Maßnahmen zu einer faktischen Grenzschli­eßung. Diese Schließung ist schon aus Sicht des Verhältnis­mäßigkeits­prinzips rechtlich fragwürdig. Was ist beispielsw­eise mit Paaren und Familien, die nun durch Grenzen getrennt sind und sich nun nicht mehr sehen können?

Kein Blankosche­ck

Es muss deutlich gesagt werden: Die den Mitgliedss­taaten gewährte Möglichkei­t, sich bei der Kontrolle ihrer Grenzen auf den Schutz der öffentlich­en Ordnung und Sicherheit zu berufen, ist kein Blankosche­ck. Auch in der gegenwärti­gen Pandeßig mie müssen die EU-Staaten, wenn sie schon Grenzmaßna­hmen einführen, die interne und externe Freizügigk­eit gleicherma­ßen auf kohärente Weise gewährleis­ten. Mit anderen Worten: Wenn ein Mitgliedss­taat Reisen in bestimmte Regionen innerhalb seines Hoheitsgeb­iets erlaubt, hat er diskrimini­erungsfrei auch Reisen aus anderen Regionen oder Ländern in der EU mit einer ähnlichen epidemiolo­gischen Lage zu gestatten.

Außerdem muss jeder Grenzmaßna­hme eine umfassende Abwägung der Interessen der davon betroffene­n Bürgerinne­n und Bürger vorausgehe­n, damit sie verhältnis­mä

„Offenbar ist man in Deutschlan­d der Meinung, dass die Covid-Gefahr vor allem von außen kommt.“

ist. Der betroffene Staat muss sich also überlegen, ob der Infektions­schutz statt durch eine Grenzschli­eßung nicht auch durch interne Maßnahmen, wie zum Beispiel umfassende Teststrate­gien in den betroffene­n Grenzgebie­ten, gewährleis­tet werden kann.

Dass diese Voraussetz­ungen beachtet wurden, darf man bezweifeln. Der Hinweis des deutschen Bundesinne­nministers allein, es gelte zu verhindern, dass das mutierte Covid-Virus aus Tirol nach Deutschlan­d „herübersch­wappt“, reicht jedenfalls nicht aus. Auch wenn Grenzschli­eßungen in einer solchen Situation als einfachste Lösung zur Eindämmung der Pandemie erscheinen, fragt sich, ob die vermeintli­chen epidemiolo­gischen Vorteile solcher Beschränku­ngen gegenüber ihren negativen wirtschaft­lichen und sozialen Auswirkung­en auf die betroffene­n Bürgerinne­n und Bürger ausreichen­d abgewogen wurden.

Es ist zudem nicht ersichtlic­h, dass in Deutschlan­d selbst, wo ebenfalls Hochinzide­nzgebiete existieren, in denen sich Covid-Mutationen rapide ausbreiten, gleicharti­ge Beschränku­ngen der Freizügigk­eit oder spezielle Maßnahmen zur Bekämpfung von Virusclust­ern ergriffen werden. Von einer Abschottun­g etwa des bayerische­n Landkreise­s Tirschenre­uth, der bereits seit Wochen einen Inzidenzwe­rt von über 300 aufweist, ist keine Rede. Offenbar ist man dort der Meinung, dass die Covid-Gefahr vor allem von außen kommt. An der Verbreitun­g solcher Ideen von einer „Einschlepp­ung“des Covid-Virus ist die österreich­ische Politik übrigens nicht unschuldig. Nun darf sie sich nicht wundern, wenn sich diese Unterstell­ungen gegen sie selbst wenden.

Der Binnenmark­t und die Freizügigk­eit in diesem Markt zählen zu den wichtigste­n Errungensc­haften der europäisch­en Einigung. Nationale Alleingäng­e bei der Pandemiebe­kämpfung in Form von Grenzschli­eßungen schaden nicht nur den Interessen der EU-Staaten selbst und den Unionsbürg­erinnen und -bürgern, sondern beschädige­n das EUProjekt insgesamt.

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Foto: Imago / Action Pictures Deutschlan­d hat an Grenzüberg­ängen zu Tirol und Tschechien in der Vorwoche fast 16.000 Menschen zurückgewi­esen.

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