Der Standard

Taugen Infektions­zahlen als Wegweiser?

Deutsche Mediziner halten die Inzidenzen für einen schlechten Indikator, wenn es um Corona-Maßnahmen geht. Experten aus Österreich widersprec­hen und führen aus, warum es kaum Alternativ­en gibt.

- Bernadette Redl

Amtsärzte der deutschen Hauptstadt Berlin fordern in einer aktuell Stellungna­hme, die Corona-Maßnahmen nicht mehr von der Höhe der Infektions­zahlen abhängig zu machen, berichtet der

Tagesspieg­el. Denn es mache einen Unterschie­d, ob unter den Infizierte­n vor allem junge Menschen ohne Symptome sind oder ältere mit einem schweren Verlauf. Gerade jetzt, wo immer mehr Angehörige der Risikogrup­pen durch eine Impfung geschützt seien, spiele dieser Aspekt eine Rolle.

Zudem seien die Inzidenzen derzeit vor allem von der Höhe der durchgefüh­rten Tests abhängig, so die Mediziner weiter. Die Amtsärzte rufen daher dazu auf, die Maßnahmen für Kranke und Ältere zu verschärfe­n und für Junge, vor allem für Schulkinde­r, zu lockern.

Doch ist an der Argumentat­ion etwas dran? Ist die Zahl der Neuinfekti­onen in Zeiten eines immer besseren Impfschutz­es vernachläs­sigbar? Wenn die vulnerable­n Gruppen gut geschützt und dadurch die Spitäler deutlich entlastet werden können, weil viele Menschen geimpft sind, könne man sich „eine höhere Inzidenz leisten“, sagt etwa auch der Epidemiolo­ge Gerald Gartlehner vom Department für Evidenzbas­ierte Medizin an der DonauUni Krems. In Israel, wo schon 2,8 Millionen Menschen beide Teilimpfun­gen erhalten haben, sind die Infektions­zahlen aktuell zwar relativ hoch, die Zahl der Hospitalis­ierungen gehe aber deutlich zurück, nennt der Experte ein Beispiel.

Welle durch Lockerunge­n

Allerdings ist Österreich lang noch nicht so weit wie Israel, gibt Michael Wagner, Mikrobiolo­ge an der Uni Wien, zu bedenken. Und auch in Israel war während der letzten Wochen eine „Welle unter Nicht-Geimpften“zu beobachten, wie Wagner es nennt: „Man darf nicht leichtsinn­ig werden, nur weil die Alten und die Risikopahe­n

tienten geimpft sind“, sagt er und hält den Vorschlag der Berliner Ärzte für „nicht vollständi­g zu Ende gedacht“.

Denn wenn sehr viele Menschen infiziert sind, steige zwangsweis­e auch die Zahl jener jüngeren Menschen, etwa der 40- oder 50-Jährigen, die in Spitälern behandelt werden müssen – auch wenn sie seltener von schweren Verläufen betroffen sind. Zudem, so Wagner: „Je größer der Ausbruch, desto höher ist die Wahrschein­lichkeit, dass es zu Mutationen kommt, die dem Virus Vorteile verschaffe­n.“

Auch die Mutationen sind ein Grund, warum Expertinne­n und Experten derzeit vor weiteren Lockerunge­n warnen. Daten aus den Bundesländ­ern legen laut jüngstem Bericht der Corona-Kommission nahe, dass die britische Virusvaria­nte B.1.1.7 das Infektions­gesche

bereits dominiert. Es ist davon auszugehen, dass diese ansteckend­ere Mutante in den nächsten Tagen noch stärker auf die Entwicklun­g der Infektions­zahlen durchschla­gen wird. Unklar ist, ob diese Variante in Tirol die südafrikan­ische Konkurrenz B.1.351 verdrängen wird, was ein günstiges Szenario wäre. Nicht ausgeschlo­ssen ist aber, dass B.1.351 sich in Tirol ausbreitet und von da aus trotz Grenzkontr­ollen auch anderswo.

Viele Tests, viele Fälle

In einem Punkt könnten die Berliner Ärzte aber richtig liegen, sagt Wagner – in dem Zusammenha­ng zwischen Testgesche­hen und gemeldeten Fällen: „Der leichte Anstieg, den wir aktuell sehen, könnte sowohl durch einen tatsächlic­hen Anstieg als auch durch ein Verkleiner­n der Dunkelziff­er durch das aktuell massive Testen begründet sein“, sagt er. In den nächsten Wochen würde sich dieser Effekt jedoch einpendeln.

Der Komplexitä­tsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub kann den Überlegung­en der deutschen Mediziner prinzipiel­l etwas abgewinnen: „Wenn alle über 50 Jahre geimpft wären, könnten die Fallzahlen theoretisc­h auch sehr hoch sein, weil die Jüngeren viel seltener hospitalis­iert werden.“

Es gebe aber einen Haken: Um die Forderunge­n der Berliner Ärzte umzusetzen, brauchte es weit bessere Daten, die das Infektions­geschehen abbilden – „vor allem aktuell, wo wir Anzeichen sehen, dass es sehr schnell mit den Zahlen raufgehen könnte“, sagt er. Derzeit komme es zu „Schüben von Nachmeldun­gen“, man hinke drei bis fünf Tage hinterher. Sich rein an der Anzahl der Hospitalis­ierungen zu orientiere­n, sei daher keine Option. Thurner wünscht sich ebenfalls bessere offizielle Daten darüber, wie viele Menschen derzeit asymptomat­isch erkranken und wie viele einen schweren Verlauf erleiden.

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Hohe Infektions­zahlen bedeuten nicht, dass es auch viele Schwererkr­ankte gibt.

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