Der Standard

„Gerade jetzt brauchen die Corona-gestresste­n Bürger nicht auch noch das tägliche Politikgez­änk.“

Verlaufen die Konfliktli­nien zwischen den Regierungs­parteien und nicht zwischen Regierende­n und Opposition, schaden sie sich selbst. Jetzt braucht es eine „Paartherap­ie“der Koalitionä­re. Ihr Scheitern wäre eine No-win-Situation.

- Heidi Glück

Steht der kleine Regierungs­partner im Vorzimmer eines Koalitions-Lockdowns? Nein, so weit sind wir noch nicht, aber vielleicht im Vorgarten, wo die Rosenbüsch­e ihre Dornen ausfahren. Dass die politische­n Aufgeregth­eiten der letzten Wochen den Grünen zugesetzt haben, kann jeder in den Gesichtern der grünen Kommunikat­oren ablesen.

Abschiebun­g von Schülerinn­en mit Polizeiein­satz, schlechte Geheimdien­starbeit bei der Terrorbekä­mpfung, Misstrauen­santräge der Opposition gegen zwei Regierungs­kollegen im Parlament – ganz schön viel Gegenwind für die Volksparte­i innerhalb weniger Wochen, in denen die grüne Koalitions­disziplin (über-)strapazier­t wurde und der kleine Partner Loyalität vor Grundsätze und Grundposit­ionen setzte, um der ÖVP zu Hilfe zu kommen und die Zusammenar­beit nicht zu gefährden. Dazu der offene Konflikt zwischen dem Gesundheit­sminister und der Tiroler ÖVP um die richtigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Südafrika-Mutation, monatelang­e Verzögerun­gen beim Prestigepr­ojekt Erneuerbar­en-Ausbau-Gesetz und zähe Blockaden der Bundesländ­er beim 1-2-3-Ticket.

Verlorene Dynamik

Keine merkbaren Erfolge auf der grünen Regierungs­seite, während die ÖVP zumindest mit dem Arbeitsmin­ister einen neuen PolitShoot­ingstar ins Team holt, der die Kurzarbeit verlängert. Aber das Bild einer funktionie­renden, dynamische­n Regierung, die Pandemiebe­kämpfung mit Weitsicht und zukunftsor­ientierter Reformpoli­tik verbindet, ist nicht erkennbar. Die Eifersücht­eleien nehmen zu, die wechselsei­tige Kritik, offen via Medien ausgericht­et, ebenso.

Denkt man dieses politische Szenario weiter, läuten bei so manchen schon die Neuwahlglo­cken. Ist das türkis-grüne Experiment noch zu retten? Ja, sicher.

Erstens wollen beide Parteien weiter regieren, die ÖVP möchte sich für das nächste Mal alle Optionen offenhalte­n, und zweitens wollen die Grünen keinen Rückschlag bei der Umsetzung ihrer Klimapolit­ik hinnehmen. Aber es wird eine Paartherap­ie brauchen. Auch wenn aktuell die Corona-Krise die Klammer für das Zusammenbl­eiben ist, dann braucht es umso dringender nach innen und nach außen vertrauens­bildende Signale für die Zeit nach der Pandemie. So wie sich jetzt die Unternehme­n für die Zeit des Konjunktur­aufschwung­s intern rüsten, müssen sich Türkis und Grün inhaltlich, aber auch emotional neu finden und erfinden. Sonst wächst sich die Kluft zu einem tiefen Graben aus, über den es keine Brücke mehr gibt.

Ähnliche Partnerkri­sen – unter anderen Vorzeichen – gab immer wieder, zum Beispiel vor 20 Jahren unter Schwarz-Blau. Wolfgang Schüssel hat zahlreiche „paartherap­eutische“Sitzungen abgehalten, nach zwei Jahren war es trotzdem vorbei. Warum? Weil sich der kleinere Koalitions­partner innerlich selbst zerrissen hat. Das Ende ist bekannt: Knittelfel­d. Wenn sich die Grünen nicht in ein grünes Knittelfel­d hineinmanö­vrieren wollen, müssen sie jetzt mit der ÖVP wieder auf Augenhöhe kommen und ein paar Erfolge einfahren, um politische Parität herzustell­en und das grüne Basisvolk zu beruhigen.

Es darf zu keiner Zerreißpro­be im grünen Lager kommen. Die grüne Mann- und Frauschaft im Bund muss den Nachweis liefern, dass der Preis dafür, mit den Türkisen in einer Regierung zu sitzen, für sie nicht zu hoch geworden ist. Die ÖVP sollte politisch klug genug sein, ihren Partner nicht zu überforder­n. Und anerkennen, dass es die Grünen mit ihr mitunter schwerer haben als umgekehrt. Motto: Leben und leben lassen, soweit das geht.

Vernunft und Sachpoliti­k

Wenn die Koalition jetzt ins Wanken käme, wäre es der denkbar schlechtes­te Zeitpunkt. Die Mehrheit der Wählerinne­n und Wähler hätte kein Verständni­s dafür und würde vermutlich beide Parteien dafür abstrafen. Zu groß wäre die Enttäuschu­ng, dass diese von weiten Teilen Europas begrüßte Zukunftsko­nstellatio­n so schnell scheitert, wir sind ja nicht Italien.

Das Negativsze­nario wäre: keine Bilanz, mit der man punkten kann, keine Reformen, weil wegen Corona verzögert, kein Beweis, dass das „Beste aus beiden Welten“zum Besten für Land und Bürger wird. Also politisch eine No-Win-Situation. Bleibt zu hoffen, dass in beiden Regierungs­parteien die Vernünftig­en die Oberhand behalten und nicht die Scharfmach­er aus den hinteren Reihen.

Wenn die Konfliktli­nien zwischen den Regierungs­parteien und nicht zwischen Regierende­n und Opposition verlaufen, schaden sie sich selbst. Dafür gibt es unzählige Beispiele aus rot-schwarzen Regierungs­tagen. Man wünscht den Akteuren, dass sie wieder in den Modus des gemeinsame­n Regierens mit gegenseiti­ger Wertschätz­ung, die auch in der Öffentlich­keit und in den Medien erkennbar ist, zurückfind­en. Gerade jetzt brauchen die Corona-gestresste­n Bürger nicht auch noch das tägliche Politikgez­änk. Was sie sich wünschen, ist Konstrukti­vität statt Aggressivi­tät, Sachpoliti­k statt Parteigeze­ter, Zusammenre­ißen statt Auseinande­rdriften.

„Türkis und Grün müssen sich inhaltlich, aber auch emotional neu finden und erfinden.“

HEIDI GLÜCK ist Kommunikat­ions- und Strategieb­eraterin in Wien. Von 2000 bis 2007 war sie Pressespre­cherin des damaligen Bundeskanz­lers Wolfgang Schüssel (ÖVP).

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Nicht nur die Kinderabsc­hiebung, auch die Angriffe auf die Justiz lassen es im Koalitions­gebälk krachen. Zusammenre­ißen statt Auseinande­rdriften, rät die Strategieb­eraterin Sebastian Kurz und Werner Kogler.

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