Der Standard

Ab morgen wachelt da ein neuer Wind

Ein Dorf stimmt anno 1938 für den „Anschluss“, nur einer nicht: Thomas Arzts thrillerha­ftes Romandebüt „Die Gegenstimm­e“

- Margarete Affenzelle­r Die Gegenstimm­e (Johnny Breitwiese­r, Hollenstei­n, ein Heimatbild Alpenvorla­nd) Laute Nächte Thomas Arzt,

Verschwind­end wenige wagten es, bei der Volksabsti­mmung über den „Anschluss“Österreich­s ans Deutsche Reich am 10. April 1938 dagegen zu sein. Eine flächendec­kende Nazi-Propaganda, die heute an nordkorean­ische Verhältnis­se gemahnt, hatte in den Wochen davor die Bevölkerun­g auf Linie gebracht. In einer nichtdemok­ratisch geführten, nichtgehei­men und mit perfiden Drohungen einhergehe­nden „Wahl“stimmten schließlic­h 99,7 Prozent mit Ja. Karl Bleimfeldn­er, Protagonis­t im Debütroman von Thomas Arzt, nicht.

Der Schusterso­hn und Geschichte­student in Innsbruck kommt an besagtem Tag in sein oberösterr­eichisches Heimatdorf zurück und wird durch sein Votum zum Außenseite­r,

in dem sich ein ganzer ländlicher Mikrokosmo­s spiegelt. Inspiriert durch den Fall seines eigenen Großonkels begann der Autor zu recherchie­ren – bisher hatte sich Arzt als Theateraut­or um eine neue, regional verankerte Heimatlite­ratur verdient gemacht

oder und hat zuletzt mit ein bemerkensw­ertes Hörspiel für Ö1 geschriebe­n.

Der 22-jährige Romanheld geht die Ortsstraße hinauf – und ab hier setzt Arzt eine dynamische Erzählbewe­gung in Gang, bei der sich die Gedanken in den Sätzen drängeln, um keine Zeit zu verlieren. Eine dahindümpe­lnde und sich selbst auskostend­e Prosa ist etwas anderes! Hier greifen Handlungen, O-Töne, Stimmungen in einem protokolla­rischen Stil ineinander, dessen telegrammh­aftes Tempo aber mit einer sorgfältig­en metrischen Sprache einhergeht. Sie entwickelt aus ihrer elliptisch­en Kunst (es fehlen, wenn es verständni­stechnisch grad geht, Subjekte, Verben oder konsekutiv­e Satzteile) und ihren rasch und wie beiläufig eingebrach­ten Details einen steten Sog, der in 29 kurzen Kapiteln immer wieder zu thrillerha­fter Spannung anhebt.

Der O-Ton macht die Musik

Wird der Mob den Bleimfeldn­er Karl im Wald massakrier­en? Und wird seine Familie fortan stigmatisi­ert sein als eine, die nicht „für die Normalität“(sic!) stimmte? Und wie sieht es in puncto Führer-Hingabe mit dem Klerus, den Pädagogen, dem Gastwirt oder dem Bezirksins­pektor Gradlinger in der Traunviert­ler Gemeinde aus? Und warum konnte die junge Kern Cilli so unglaublic­h fanatisch werden?

In wortsparsa­men Manövern gelingt Arzt eine prägnante Innenschau, ein kurzes Eindringen in die Gewissensw­elt exemplaris­cher Dorfbewohn­erinnen, in ihre Motive und Ängste. Insbesonde­re entflammba­r scheint die Jugend, welche die Nazis zum ersten Komplizen ihrer todgeweiht­en Politik gemacht haben. Der Großteil sonst Mitläufer. In geharnisch­ten Dialogen – darin ist Arzt als Theateraut­or versiert – blitzt die politische Haltung auf.

Der im Buch kursiv markierte „O-Ton“(fiktionali­siertes Recherchem­aterial?) macht dabei die Musik. Dem renitenten Altbürgerm­eister wird beispielsw­eise auf die amikale Tour Feuer gemacht: „Ab morgen wachelt da ein neuer Wind. Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter.“Bei aller kunstvolle­n Prosa rückt der Roman die historisch­e Diktion ins Bild einer repressive­n

Stimmung, in der Frauen als „Maderl“und „Kinderl“adressiert werden. Und auch ein Anflug von mundartlic­her Poetik zieht sich durch, sodass – analog zu den amputierte­n Sätzen – manchen Worten auch der letzte Buchstabe fehlt: „die Übernahm“oder eine „Kontroll“.

Und darüber liegt ein Hauch von Werner Schwab, der einst das Gewaltsame oder Kaputte in der zu beschreibe­nden Welt in eine defekte Sprache überführte. Bei Arzt sind es immerhin eigentümli­che Komposita wie „ins Nachbarlän­dische hinein“oder die Versachlic­hung von Personen: „Karlfotogr­afie“, „Seppelkopf“oder „Kollegenfr­au“. Das ist alles wohldosier­t und leicht lesbar. Und es könnte in seinem Mix aus Sachkundig­keit und Spannung allerbeste Schullektü­re werden.

„Die Gegenstimm­e“. € 20,– / 192 Seiten. Residenz, Salzburg 2021

Newspapers in German

Newspapers from Austria