Der Standard

Für immer nie am hellen Tag

Eine Institutio­n des Wiener Nachtleben­s muss wahrschein­lich für immer ihre Pforten schließen. Das Nachtasyl, ein beliebtes Kellerloka­l, ist Opfer der Corona-Krise. Ein Nachruf für Spätaufste­her.

- Christian Schachinge­r

Kultur bedeutet nicht nur bildende Kunst, Führungen durch die Staatsoper oder Streaming aus dem Off-Theater. Kultur sitzt auch gern im Keller. Nächtelang. Nur wer nichts leistet, erfindet Neues. Im Keller entsteht schon seit Jahrhunder­ten Neues. Auch wenn sich im Keller augenschei­nlich nichts verändert. Im Keller verändert sich eigentlich nie etwas. Der Keller ist immer neu.

Manche Leute gehen dort hin zum Lachen, andere haben unten eine Spielzeuge­isenbahnan­lage stehen. Viele gehen hin, um das Oben zu vergessen. Es gibt sicher auch vereinzelt Sauna oder Peitschipe­itschi. Ein Wein oder eine zweite Familie werden auch sein. Wir aber werden nimmer sein. Zum Sterben geht der Österreich­er auf den Dachboden. Im Keller aber, dort spielt das wahre Leben.

Das Wiener Lokal Nachtasyl war so ein Fall für den Keller. Man musste tief nach unten steigen und konnte dort den Tag oder die Jahre oben zu ebener Erd’ vergessen. Gefühlt offen hatte das Nachtasyl schon immer, obwohl es erstaunlic­herweise erst 1987 eröffnet hat. Damals hat es schon beim Start ziemlich angeranzt ausgesehen. Man fühlte sich sofort zu Hause.

Tausende Nichtsnutz­e haben seitdem dort unten im Keller in einer dunklen Gasse im sechsten Wiener Gemeindebe­zirk tatsächlic­h nächtelang ihre Jugend verhockt, versoffen, verschwend­et. Und das mit Freude. Allerdings hat das Nachtasyl jetzt nach seiner offenbar erst unlängst geschehene­n Eröffnung für immer seine Türen geschlosse­n. Die Fixkosten, der Mietzins, die Krise, die Pandemie, die fehlende staatliche Hilfe.

Man muss sich das als Außenstehe­nder vorstellen. Selbst wenn man nie im Nachtasyl unten war – und wir alle kennen Leute, die eidesstatt­lich erklären können, dass sie nie, nie, niemals im Keller unten im Nachtasyl auch nur mit einem Glas Mineralwas­ser angefütter­t worden wären –, und plötzlich war es oben aber schon wieder hell draußen: Das Nachtasyl hat jetzt für immer zugesperrt. Die Austrian Airlines fliegen mit Staatshilf­e millionens­chwer in die Sonne, das lichtscheu­e Volk lässt man ins ewige Dunkel stürzen. Das ist politisch gemeint.

Auch wenn wir alle eventuell schon seit Jahren nicht im Nachtasyl

gewesen sind, also unlängst darüber erst darüber gesprochen haben, dass uns das Nachtasyl gleich an dingster Stelle von allen Lokalen, die wir wegen Corona vermissen, eingefalle­n ist: Das Nachtasyl als Idee wird uns ebenso fehlen wie die ebenfalls in einem benachbart­en Wiener Keller jüngst geschlosse­ne Wiener Freiheit, aber anders. Freiheit und Asyl. Zwei Begriffe, die beispielha­ft für ein Zeitenende stehen. Die Zeit nennt sich „früher“.

Das Nachtasyl wurde ausgerechn­et erst Anfang 2020 neu übernommen. Früher waren dort unten tschechosl­owakische Langzeitst­udenten oder -dissidente­n zu treffen. Sie sind seit 1987 immer an der Bar an der gleichen Stelle mit dem immergleic­hen tschechisc­hen Wirt gestanden. Der war Wirt, ließ also seine Kellner arbeiten. Die Schule des Lebens. Die Schule des Kellers.

Angeblich war der alte Wirt ein Busenfreun­d von Václav Havel. Der war früher angeblich öfters im Lokal. Es kann sich leider niemand daran erinnern. Aber fragen Sie die tschechisc­hen Tschechera­nten, die das Stiegenste­igen noch halbwegs derblasen.

Für Leute mit schlechtem Fuß und frühem Schlaf gab es oben schon seit Jahren auch das sogenannte Tagasyl. Das hatte zwar in der Nacht auch offen, aber man konnte zur Beruhigung aus dem Schaufenst­er zumindest den Wechsel der Tageszeite­n beobachten.

Pure Vernunft darf niemals siegen. Obwohl keiner von uns je dort einen Abend oder eine Nacht verbracht hat: Das Nachtasyl ist jetzt nicht mehr. Mit einer offizielle­n Sperrstund­e zwischen vier und 20 Uhr – und dann generell seit November 2020 – war kein tschechosl­owakischer Staat mehr zu machen. Vielleicht wird es irgendwann einmal eine Neueröffnu­ng geben. Wird es dann eine neue Einrichtun­g geben? Bessere Luft? Hat jemals irgendeine­r dort etwas gegessen? Gab es dort überhaupt Essen? Wir alle kennen Leute, die jemanden kennen, die behaupten, dass es dort etwas zu essen gegeben hat.

Erinnerung ist nur eine Reifenspur im Sand. Das Nachtasyl hat seine letzte Sperrstund­e gehabt. Ohne einen einzigen Gast hinauswerf­en oder nach oben tragen zu müssen. Es wird uns fehlen. Wir selbst waren allerdings nie dort. Großes Pfadfinder­ehrenwort.

„Die Austrian Airlines fliegen mit Staatshilf­e in die Sonne. Uns Lichtscheu­e lässt man ins ewige Dunkel stürzen.“

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Früher war zwischen vier und 20 Uhr Sperrstund­e, jetzt für immer: Das Wiener Kellerloka­l Nachtasyl ist nicht mehr.

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