Der Standard

Es lebe die Unschuldsv­ermutung

Wer Ermittlung­en im politische­n Umfeld will, darf nicht gleich nach Rücktritt rufen

- Eric Frey

Zuerst der Finanzmini­ster, dann ein ehemaliger Justizmini­ster und der mächtigste Beamte im Justizmini­sterium: Angesichts der vielen Ermittlung­en gegen Persönlich­keiten aus dem ÖVP-Umfeld könnte man meinen, die türkise Führungska­ste versinkt im Korruption­ssumpf. Es ist vor allem der Ärger über diesen – inzwischen recht weit verbreitet­en – Eindruck, der die ÖVP unter Kanzler Sebastian Kurz zu ihren umstritten­en Angriffen auf die Wirtschaft­sund Korruption­sstaatsanw­altschaft anstiftet.

Doch dieser Anschein trügt oder ist zumindest nicht durch Fakten belegt. Zu beobachten ist eine intensiver­e Ermittlung­stätigkeit der Behörden, die dank des regen Austauschs von Chats unter Politikern und Managern auf immer neue Spuren stoßen und diesen konsequent nachgehen. Dass dabei das Mittel der Hausdurchs­uchung recht großzügig eingesetzt wird, ist erklärbar: Ohne Sicherstel­lung elektronis­cher Geräte tappen die Staatsanwä­lte meist im Dunkeln.

All das ist nicht ein Symptom einer korrupten Gesellscha­ft, sondern Beleg für ein funktionie­rendes Staatswese­n. Dabei geraten Menschen ins öffentlich­e Zwielicht, die sich entweder nichts zuschulden haben kommen lassen oder denen man nichts nachweisen kann. Beides gilt im Rechtsstaa­t als Unschuld. Doch wenn bei Bekanntwer­den von Ermittlung­en die Opposition, unabhängig­e Experten und Medien sofort nach Rücktritt rufen, dann wird das Prinzip der Unschuldsv­ermutung ad absurdum geführt.

Deshalb war es richtig, dass Wolfgang Brandstett­er sein Amt als Verfassung­srichter nicht zurücklegt­e, und deshalb muss die Entscheidu­ng von Ersatzjust­izminister Werner Kogler, Christian Pilnacek als Sektionsch­ef zu suspendier­en, zumindest hinterfrag­t werden. Einige Wochen Zwangsurla­ub wären vertretbar, aber diese Ermittlung­en könnten sich viele Monate lang hinziehen. Pilnaceks Beamtenkar­riere wäre dann praktisch zu Ende, ohne dass es zu einer Verurteilu­ng oder auch nur zu einer Anklage kommen muss.

Die ÖVP möchte dieses Problem bewältigen, indem sie die Staatsanwä­lte und die Medien bei ihrer Arbeit einbremst. Aber das ginge auf Kosten der Korruption­sbekämpfun­g. Besser wäre es, die Meinungsma­cher in diesem Land würden lernen, gelassener mit Ermittlung­en im politische­n Umfeld umzugehen und sie als notwendige­n Kontrollme­chanismus in einer Demokratie aufzufasse­n. Wir wollen ja, dass die Staatsanwa­ltschaft jedem Verdacht nachgeht und nicht aus Rücksichtn­ahme auf die Reputation der Betroffene­n eine Beißhemmun­g entwickelt. Doch dann dürfen andere auch nicht mit Verweis auf das beschädigt­e Vertrauen Konsequenz­en fordern, die sachlich nicht gerechtfer­tigt sind.

Es würde helfen, wenn der Begriff „Beschuldig­ter“aus der Strafproze­ssordnung verschwind­et; er steht schon semantisch im Widerspruc­h zur Unschuldsv­ermutung. Gernot Blümel, Brandstett­er, Pilnacek und Co werden verdächtig­t und nicht mehr.

Es gibt auch andere politische Biotope, in denen sich die Staatsanwa­ltschaften umschauen könnten, etwa in manchen Bundesländ­ern und Kommunen. Aber zumindest bis zu einer rechtskräf­tigen Anklage muss für alle Politiker die Unschuldsv­ermutung nicht nur gelten, sondern auch gelebt werden.

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